Psychiatrische Rehabilitation: Verhinderung von Armut und Exklusion

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Die psychiatrische Rehabilitation versuchte traditionell, Menschen mit psychischen Problemen über ein Stufenleiter-Modell sozial zu integrieren. Da dieses Modell gescheitert ist, wird seither die soziale Inklusion propagiert. Noch erfolgreicher wäre jedoch die Prävention und dadurch auch die Verhinderung von Armut und sozialer Exklusion.

Menschen mit ausgeprägten psychischen Problemen sind seit jeher überwiegend verarmt und sozial exkludiert. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein lebten viele Betroffene in Institutionen wie psychiatrischen Anstalten und Heimen und damit getrennt von der Allgemeinbevölkerung. Dies geschah überwiegend gegen ihren Willen und die Aufenthalte dauerten Jahre bis Jahrzehnte. In dieser Phase der psychiatrischen Versorgung gab es so gut wie keine Anstrengungen zur Überwindung der Exklusion und der damit einhergehenden Rechtlosigkeit der betroffenen Menschen.

Von der Exklusion zur Integration

Im Rahmen der Psychiatrie-Reformen ab den 1970er-Jahren änderte sich dies. Die psychiatrischen Kliniken wurden verkleinert und teils aufgelöst. Menschen mit psychischen Problemen sollten «in der Gemeinde» leben und sich sozial integrieren. Wie im Rest der Medizin sollte dies über ein rehabilitatives Stufenleiter-Modell geschehen. Im Arbeitsbereich wurden Fertigkeiten erlernt und Belastungen zunehmend erprobt, indem über eine Werkstatt oder eine Sozialfirma ein Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden wurde. Im Wohnbereich existierte ein analoges Modell vom Wohnheim über eine betreute Wohngemeinschaft bis zur eigenen Wohnung.

Die empirische Forschung zeigte jedoch, dass nur ein kleiner Teil der betroffenen Menschen es über die Stufenleiter schafften, ihre Ziele zu erreichen. Nur ca. 10 bis 15 Prozent der Personen fanden auf diese Weise den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt und in die eigene Wohnung. Daher verwundert es nicht, wenn heute ein grosser Teil von Menschen mit schweren psychischen Problemen nach wie vor von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen lebt. Armut sowie soziale Isolation und Einsamkeit kennzeichnen die Lebensrealität vieler Menschen mit psychischen Problemen.

Von der Integration zur Inklusion

Neuere Ansätze, welche auf Inklusion statt Integration setzen, sind erst an wenigen Orten der Schweiz etabliert. Dies sind beispielsweise Programme zur unterstützten Beschäftigung, welche die Stufenleiter umgehen und darauf abzielen, Menschen mit psychischen Problemen direkt in allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren. Diese Programme sind deutlich erfolgreicher als die konventionelle Arbeitsrehabilitation und schaffen es, dass etwas mehr als 40 Prozent der Programmteilnehmenden nachhaltig im Arbeitsmarkt verbleiben.

Ein ähnlich hoher Prozentsatz ist auch in der Lage, in der eigenen Wohnung zu leben. Und die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen des Lebens in der eigenen Wohnung sind nicht schlechter als das Wohnen in mehr betreuten Settings. Entscheidend ist zudem, dass sowohl die eigene Wohnung wie auch der Job im ersten Arbeitsmarkt klar zu den Präferenzen der betroffenen Menschen zählen.

Allerdings kommt nur ein kleiner Teil der infrage kommenden Person in den Genuss solcher Programme. Diese Situation wird nicht nur von Betroffenen als problematisch angesehen, sie widerspricht auch den Zielen der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK), welche die Schweiz im Jahr 2014 unterzeichnet hat. Der Evaluationsbericht zur Umsetzung der UN-BRK aus dem Jahr 2022 hat eine mehr oder minder vernichtende Bilanz gezogen. Dieses Urteil wird von schweizerischen Nicht-Regierungs-Organisationen geteilt. Sowohl die Sozialversicherungen als auch die konventionellen Rehabilitationsinstitutionen zeigen eine bemerkenswerte Zurückhaltung und ein Beharrungsvermögen bei der Umsetzung der UN-BRK.

Von der Inklusion zur Verhinderung von Exklusion

Mit der nur in Ansätzen angestrebten Inklusion vergibt sich das Gesundheits- und Sozialwesen ein erhebliches Potenzial. Psychische Probleme entstehen in aller Regel nicht über Nacht, sondern haben meist eine relativ lange Entwicklung. Bekanntermassen haben Jugendliche und junge Erwachsene ein sehr grosses Risiko, erstmalig unter solchen Problemen zu leiden. Dahinter stecken nicht nur biologische Veränderungen, sondern auch Schwierigkeiten der Sozialisation wie Ablöseprobleme von den Eltern. Bis heute existieren nur in wenigen Kantonen flächendeckende Unterstützungssysteme durch Schulsozialarbeit und viele Lehrpersonen tun sich zudem sehr schwer, psychische Probleme zu erkennen und anzusprechen. Noch weniger Unterstützung ist in der Berufslehre vorhanden, insbesondere in KMUs. Gemäss den letzten Erhebungen des Bundesamts für Statistik wird mehr als ein Fünftel der Lehren abgebrochen und es ist zu vermuten, dass dies häufig durch psychische Probleme ausgelöst wird.

Eine ähnliche Situation existiert im Umgang mit psychischen Belastungen im Arbeitsleben Erwachsener. Wirksame präventive Massnahmen und Angebote werden eher selten in Anspruch genommen, wenn sie überhaupt vorhanden sind. Frühzeitige Interventionen und Unterstützung sind jedoch in der Lage, eine grosse Zahl Betroffener im Job zu halten. Solche Interventionen sind schlussendlich wesentlich effektiver als die Wiedereingliederung nach erfolgtem Jobverlust. Sie tragen nicht nur zur Reduktion psychischer Probleme bei, sondern helfen durch Einsparungen auch den Systemen der sozialen Sicherung und leisten einen Beitrag gegen den Arbeitskräftemangel.

Die Unterstützung bei Alltagsproblemen durch Wohnbegleitung im Wohnumfeld stabilisiert eindeutig die Situation der von psychischen Problemen betroffenen Menschen. Gleichzeitig helfen derartige Programme jedoch auch, die Wohnstabilität zu sichern und den Wohnungsverlust sowie drohende Obdachlosigkeit zu vermeiden. Diese ambulanten Angebote werden jedoch – bedingt durch Auseinandersetzungen zwischen Leistungserbringenden und Krankenversicherungen – seit Jahren nicht mehr kostendeckend finanziert.

Schlussfolgerungen

Der Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion könnte deutlich mehr Menschen mit psychischen Problemen vor Armut und sozialer Exklusion bewahren. Noch besser und wirksamer wäre es jedoch, wenn es gelänge Prävention und Rehabilitation zu kombinieren. In der Schweiz besteht ein grosses Potenzial gegen die soziale Marginalisierung von Menschen mit psychischen Problemen anzugehen. Dies entlastet nicht nur die Sozialkassen, sondern würde auch der menschenrechtlichen Intention der UN-BRK und nicht zuletzt dem Willen und den Präferenzen der meisten Betroffenen entsprechen.

5. Nationale Tagung Gesundheit & Armut

Psychische Gesundheit von Armutsbetroffenen stärken – Barrieren in der Versorgung abbauen
7. Juni 2023 in Bern oder Online

Mit Keynotes von:

  • Stéphane Cullati, Universität Fribourg
  • Claudine Burton-Jeangros, Universität Genf
  • Dirk Richter, Berner Fachhochschule

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2 Kommentare
  • Pirlo

    Antworten

    Und wenn ich nicht will? Lasst mich einfach in Ruhe, bei euch Normopathen weiss man nie, was ihr als nächstes mit uns Kranken vor habt. Und von Armut ist man weit entfernt, dafür hat man IV+EL.

  • Dirk Richter

    Antworten

    Guten Tag Pirlo
    Besten Dank für Ihren Kommentar. Sie betonen einen wichtigen Aspekt, der im Blogbeitrag aus Platzgründen nicht angemessen behandelt werden konnte.
    Massgebend für mich ist die UN-BRK, welche den Willen und die Präferenzen der betroffenen Personen hervorhebt. Wenn Sie mit der IV und den EL zurechtkommen, dann ist das wunderbar. Allerdings ist das bei vielen Menschen mit psychischen Problemen nicht der Fall. Zudem müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass mehr als vier Fünftel der Menschen in der eigenen Wohnung leben und ungefähr zwei Drittel im ersten Arbeitsmarkt schaffen wollen.
    Wenn Sie das nicht wollen, finde ich das vollkommen in Ordnung und ich bin der letzte, der Sie in soziale Normen pressen würde. Andere Menschen mit psychischen Problemen sehen das anders und da ist es unsere Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, gemäss ihren Präferenzen zu leben.
    Freundliche Grüsse
    Dirk Richter

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