Arbeiten mit einer Beeinträchtigung – wie funktioniert das andernorts?

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Foto: istock

Menschen mit einer Beeinträchtigung sind in der Arbeitswelt benachteiligt. Mit Projekten, die teilweise auf Inklusion abzielen, gelingt es in einigen Regionen Europas, Hürden abzubauen. BFH-Dozent Matthias von Bergen hat sich im vergangenen Jahr ein Bild davon gemacht. Erfahren Sie mehr über seine Erkenntnisse, die auch für die Schweiz richtungsweisend sind.

Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung lebt mit einer Behinderung. Im Alltag erfahren viele von ihnen erhebliche Benachteiligungen. Ende 2023 schickte der Bund deshalb eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) in die Vernehmlassung. Sie soll u.a. die Situation in der Arbeitswelt verbessern. Arbeitgebende würden etwa verpflichtet, zumutbare Massnahmen zu treffen, um Benachteiligungen abzubauen. Zudem will der Bund mit einem Schwerpunktprogramm u.a. den Übergang vom geschützten zum allgemeinen Arbeitsmarkt durchlässiger machen.

Die BFH begleitete in den vergangenen Jahren mehrere Projekte im Bereich Behinderung. Dozent Matthias von Bergen engagierte sich in einigen davon. Er sagt zur Situation von Menschen mit einer Beeinträchtigung im Bereich Arbeit:

Ihr Anteil auf dem Arbeitsmarkt ist deutlich kleiner als bei der Gesamtbevölkerung. Für Menschen mit einer starken Beeinträchtigung ist der Zugang besonders schwierig. Relativ gut ausgebaut und finanziert ist jedoch der geschützte Arbeitsbereich. Das sind meist Angebote, die ausschliesslich für Menschen mit Behinderungen bestehen.

Prof. Matthias von Bergen forscht und lehrt am Departement. Das Gespräch wurde als Basis des Artikels im Februar 2024 geführt.

Rund 25 000 Menschen mit Behinderungen arbeiten in geschützten Werkstätten und Integrationsbetrieben. Die Kantone sind verpflichtet, solche Programme anzubieten. Leistungserbringer sind Institutionen wie die Band-Genossenschaft im Kanton Bern. Die Mitarbeitenden in diesen Programmen beziehen in der Regel eine IV-Rente. Diese Abkopplung des Arbeitsmarktes ist mit Blick auf die von der Schweiz ratifizierte UNO-Behindertenrechtskonvention kritisch, da sie auch im Bereich Arbeit eine gleichberechtigte Teilhabe, bzw. Inklusion fordert. Angesprochen auf den Effekt des Abkommens auf die Schweiz sagt von Bergen:

Bund, Kantone und Institutionen beginnen, sich neu auszurichten. Bis heute fokussiert das Umdenken vor allem auf den Bereich Wohnen. Dort werden teilweise auch neue Finanzierungssysteme geschaffen, die vermehrt Angebote ausserhalb von Institutionen möglich machen. Im Bereich Arbeit lief bisher eher wenig. Unterdessen wurde die Schweiz vom UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen u.a. auch dafür gerügt − was mich zu einer Forschungsreise motivierte. Ich suchte nach Impulsen für neue Projekte.

Matthias von Bergen besuchte im vergangenen Jahr dreissig Organisationen und Projekte in Katalonien (Spanien), den Niederlanden, Flandern (Belgien), Graz (Österreich), Berlin (Deutschland) und Finnland. Sie alle bieten Menschen mit teilweise schweren Beeinträchtigungen Möglichkeiten zu arbeiten und zahlen ihnen einen Lohn.
Es sei schwierig, die Staaten miteinander zu vergleichen, sagt von Bergen. Einige Regierungen gäben der Integration und Inklusion in die Arbeitswelt mehr Gewicht. Einzelne Träger oder Projekte seien von sich aus aktiv geworden, hätten Spielräume erkannt und diese genutzt.

Länder wie Deutschland und Spanien verpflichten grössere Unternehmen, Menschen mit Beeinträchtigungen zu beschäftigen. In Deutschland etwa müssen in Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden mindestens 5 Prozent der Stellen mit sogenannt schwerbehinderten Menschen besetzt werden. Allerdings besteht die Möglichkeit, stattdessen Ausgleichszahlungen zu leisten, was offenbar die meisten Firmen tun.

In den Niederlanden, Flandern und Finnland gibt es hingegen keine Quoten. Stattdessen wird auf «Mainstreaming» gesetzt. Das heisst, es gibt kaum mehr spezielle Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern diese richten sich allgemein an «Menschen mit einer Distanz zum Arbeitsmarkt». Zu ihnen zählen etwa auch geflüchtete Menschen. Ziel ist, dass möglichst alle im ersten Arbeitsmarkt eine Stelle finden.

Die Vielfalt an Projekten sei riesig, sagt von Bergen. Eine Vorstellung davon erhielt, wer im Sommer 2023 seinen Berichten auf den Sozialen Medien des Departements Soziale Arbeit folgte. Aus Graz berichtete der Dozent etwa über das «Forschungsbüro Menschenrechte» von LebensGross, wo sich Menschen treffen, die eine schwere Beeinträchtigung haben. Sie erzählten, wie sie als Forschende bei einem Stadtentwicklungsprojekt mitgearbeitet haben. Begeisterung und Engagement seien überall spürbar gewesen, sagt von Bergen im Rückblick. Arbeit sei mehr als Existenzsicherung, sie schaffe Sinn, ermögliche, andere Leute zu treffen und einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten.

Nach seiner Reise traf sich von Bergen in der Schweiz mit Vertreter*innen von Behörden und Institutionen. Da in der Schweiz die Kantone für die Angebote für Menschen mit Behinderungen zuständig sind, kommt ihnen im laufenden Veränderungsprozess eine wichtige Rolle zu. Hier wachse das Bewusstsein, dass auch im Bereich Arbeit neue Wege zu suchen seien, so von Bergen. Wohin könnte seiner Ansicht nach hier der Weg hin zu einem durchlässigeren Arbeitsmarkt gehen?

Ein Ansatzpunkt ist, dass Menschen mit Behinderungen, die im allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sind, einen Jobcoach zur Seite bekommen, der sie nach Bedarf auch längerfristig begleitet. Diese Person steht zur Seite, falls Probleme auftreten. Übernehmen könnte das Jobcoaching eine Fachperson aus einer Organisation der Arbeitsintegration oder auch spezifisch geschulte Mitarbeitende in einem Unternehmen, ähnlich wie in der Lehrlingsausbildung.

Für die Kantone Bern und Zürich steht vorerst die Subjektfinanzierung für den Bereich Wohnen im Vordergrund. Neu gelten dort Gesetze, die vorsehen, dass die Behörden Betreuungsgelder künftig nicht mehr an Institutionen zahlen, sondern direkt an Menschen mit Behinderungen mit Unterstützungsbedarf. Der Bereich Arbeit könnte für diese Kantone der nächste Schritt sein, sagt von Bergen. Einige Kantone seien deshalb an den Erfahrungen aus Flandern (Belgien) besonders interessiert gewesen. Die Region wendet die Subjektfinanzierung seit diesem Jahr im Bereich Arbeit an. Das bedeutet, dass betroffene Menschen dort ein individuelles Budget haben, das die Unterstützung am Arbeitsplatz abdecken soll.

Ersterscheinen des Artikels in etwas ausführlicher Version: «impuls – Fachmagazin des Departements Soziale Arbeit BFH», Ausgabe vom 6. Mai 2024
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