Die unnachgiebige Entschlossenheit der sogenannten «Saturday-Mothers» ist ein Symbol für den politischen Kampf in der Türkei. Eine gemeinsam mit der Universität St. Andrews durchgeführte Studie zeigt, dass die intrafamiliäre Weitergabe, die geteilten Erfahrungen und die gemeinsamen Ziele der Initiative wesentliche Aspekte sind, die es den Aktivist*innen ermöglichen, ihr Engagement für Gerechtigkeit fortzusetzen.
In den historischen Strassen Istanbuls gibt es eine Gruppe von Müttern, die schweigend mehr Gerechtigkeit fordert: die sogenannten «Saturday-Mothers». Diese Frauen treffen sich jeden Samstag auf dem Galatasaray-Platz, um zu protestieren und um in Erfahrung zu bringen, was mit ihren vermissten Angehörigen geschehen ist. Die Initiative, die in der türkischen Politszene eine wichtige Rolle spielt, setzt sich gegen Menschenrechtsverletzungen ein.
In der Türkei wurden seit 1980 im Rahmen des kurdisch-türkischen Konflikts immer wieder Hunderte von kurdischen Aktivist*innen von den staatlichen Sicherheitskräften entführt und verschwanden spurlos. Auch die Menschenrechtsverletzungen und Folterungen in Haft nahmen stets zu. Die Bewegung der «Saturday-Mothers» entstand 1995 in der Türkei während dieser dunklen Zeit als Reaktion auf die politischen Verhaftungen und die zunehmende Zahl verschwundener Menschen. Eine Gruppe von Müttern tat sich zusammen, um das Schweigen zu brechen und Gerechtigkeit zu fordern. Jede Woche versammeln sie sich auf dem Galatasaray-Platz, um an ihre Verluste zu erinnern und Gerechtigkeit zu fordern. Die Treffen dienen nicht nur dem Gedenken, sondern werden auch als Akt des Widerstands gesehen.
Diese Initiative wurde in der Türkei zu einem Symbol für den Kampf für Menschenrechte. Trotz der Veränderungen innerhalb der Regierung haben diese Frauen ihre Suche nach den Vermissten und ihren Kampf für Gerechtigkeit nie aufgegeben. Anfangs waren es nur Mütter, die protestierten, aber mit der Zeit schlossen sich weitere Familienmitglieder an, womit die Zahl der Aktivist*innen wuchs. Die «Saturday-Mothers» stehen nicht nur für die Erfahrungen einiger Familien, die nach ihren vermissten Angehörigen suchen, sondern markieren auch einen wichtigen Meilenstein in der politischen Geschichte der Türkei.
Die wissenschaftliche Forschung mit vulnerablen Gruppen
Die aktuelle Studie, die in Zusammenarbeit der Universität St. Andrews und der Berner Fachhochschule durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass die Bewegung der «Saturday-Mothers» mehr ist als nur eine von einer Gruppe von Frauen angeführte Protestbewegung. Sie ist vielmehr ein von Generation zu Generation weitergegebenes Vermächtnis des Widerstands. In der Studie lag der Fokus auf der Kommunikation innerhalb der Familien, den Zielen der Bewegung und den gemeinsamen Erfahrungen. Sie ermittelte die Faktoren, welche die treibenden Kräfte hinter den Handlungen der «Saturday-Mothers» und der Weitergabe des Engagements über Generationen hinweg sind.
Die «Saturday-Mothers» sind eine Gruppe von Personen, die einen geliebten Menschen verloren haben und Repressionen und Traumata ausgesetzt waren. Die Arbeit mit ihnen birgt aufgrund der besonders heiklen Thematik verschiedene psychologische und rechtliche Risiken. Aus diesem Grund entwickelte das Forschungsteam einen detaillierten Plan und eine Strategie, um diese Herausforderungen zu meistern. Durch die stetige Kommunikation mit den Gruppenmitgliedern konnten sie ein vertrauensvolles Arbeitsumfeld schaffen.
Zu Beginn fanden zwischen den Mitgliedern der Gruppe und dem Forschungsteam gemeinsame Sitzungen statt. Der Zweck, die Ziele und der Ablauf der Untersuchung wurden offen dargelegt. Details wie die Zusammensetzung des Forschungsteams, die angewandten Methoden und die Verwertung der gewonnenen Daten wurden ausführlich erläutert. Zwei Mitglieder der Bewegung wurden ins Forschungsteam aufgenommen. Zudem wurde zu jedem Thema die ausdrückliche Zustimmung der Gruppenmitglieder eingeholt und sie wurden über jeden Schritt aktiv auf dem Laufenden gehalten.
Während des ganzen Prozesses war es von entscheidender Bedeutung, das Triggern traumatischer Erfahrungen zu vermeiden, keinen Schaden anzurichten und die jeweiligen Verletzbarkeiten der Betroffenen zu respektieren. Auch wurden die notwendigen Massnahmen zum Schutz der Privatsphäre und der Sicherheit der Gruppenmitglieder ergriffen, damit zum Beispiel keine Informationen ohne Zustimmung der betroffenen Person weitergegeben wurden.
Die Arbeit mit den «Saturday-Mothers» ist trotz der vielen emotionalen und mentalen Herausforderungen von entscheidender Bedeutung, um ihr Engagement für Gerechtigkeit zu unterstützen und den gesellschaftlichen Wandel zu fördern. Mittels eines sorgfältig vorbereiteten Forschungsplans und der Einhaltung ethischer Grundsätze konnte durch diese Forschung neue Erkenntnisse zu diesem wichtigen Thema gewonnen werden.
Bedeutung und Zukunft der «Saturday-Mothers»
In Istanbul durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass die Bewegung der «Saturday-Mothers» ein über Generationen weitergegebenes Vermächtnis des Widerstands darstellt. Auf der Grundlage unserer Forschung haben wir drei Kernthemen identifiziert, die zum Fortbestand des Engagements der «Saturday-Mothers» beitragen.
- Intrafamiliäre Weitergabe: In den Familien der «Saturday-Mothers» werden die politische Einstellung und das Engagement durch Gespräche aktiv an jüngere Generationen weitergegeben. So werden die nachfolgenden Generationen innerhalb ihrer Familien politisiert und sie engagieren sich aktiv.
- Gemeinsames Ziel: Die «Saturday-Mothers» verfolgen das Ziel, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses gemeinsame Anliegen eint die Gruppenmitglieder und gewährleistet die Kontinuität ihres Engagements.
- Geteilte Erfahrungen: Das Zusammenkommen von Familien, die ähnliche Schicksalsschläge erlebt haben, erleichtert den Austausch über gemeinsame Erfahrungen und Probleme. Dies fördert das Gefühl der Verbundenheit zwischen den Gruppenmitgliedern und damit die Solidarität.
Diese Themen bilden die Grundlage für den anhaltenden Aktivismus der «Saturday-Mothers». Die intrafamiliäre Weitergabe sowie gemeinsame Ziele und geteilte Erfahrungen schaffen starke Bindungen zwischen den Gruppenmitgliedern, die sie in die Lage versetzen, gemeinsam zu handeln und ihr Engagement aufrechtzuerhalten. Diese Ergebnisse zeigen, dass die «Saturday-Mothers»-Bewegung nicht nur für die heutigen, sondern auch für künftige Generationen bedeutsam ist.
Im Laufe der Jahre haben die «Saturday-Mothers» begonnen, breitere Schichten der Gesellschaft einzubeziehen, was den Schluss zulässt, dass der Einfluss der «Saturday-Mothers» weiterwachsen und stärker werden wird. Durch die Sensibilisierung der jüngeren Generationen für das Thema Menschenrechte wird die «Saturday-Mothers»-Bewegung darüber hinaus auch in Zukunft zum Einsatz für Gerechtigkeit inspirieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die «Saturday-Mothers»-Bewegung nicht nur der stumme Aufschrei einer Gruppe von Frauen ist, sondern auch ein wichtiger Meilenstein für die Demokratisierung und die Menschenrechte der Türkei. Diese Initiative erinnert an vergangenes Unrecht und bleibt gleichzeitig ein Symbol der Hoffnung und des Widerstands für zukünftige Gerechtigkeit.
Kontakt:
Artikel und Berichte:
Partnerschaften und Projekte:
- Dr. Yasemin Gülsüm Acar, Dozentin, Universität St. Andrews
- Dr. Fergus Neville, Dozent, Universität St. Andrews
Literatur und weiterführende Links:
- Bargu, B. (2014). Sovereignty as erasure: Rethinking enforced disappearances. Qui Parle: Critical Humanities and Social Sciences, 23(1), 35-75.
- Saatci, M. (2002). Nation–states and ethnic boundaries: modern Turkish identity and Turkish–Kurdish conflict. Nations and Nationalism, 8(4), 549-564.
- Şanlı, A. S. (2020). Gündelik Hayatı Dönüştüren Eylem Olarak Protesto veProtesto Aktörü Olarak Kadınlar: Cumartesi AnneleriÜzerine Bir Değerlendirme. Fe Dergi, 12(1), 44-58.
0 Kommentare