Das Thema Armut wird in der reichen Schweiz häufig tabuisiert. Zudem leiden arme Menschen häufiger an gesundheitlichen Problemen, die ihre Chancen auf ein besseres Leben zusätzlich vermindern. Die nationale Tagung Gesundheit & Armut des BFH-Zentrums Soziale Sicherheit sucht nach Lösungsansätzen, um diesen Teufelskreis zu überwinden.
Die Wechselwirkung zwischen Armut und Gesundheit ist lange bekannt, sie erscheint uns beinahe schon als Selbstverständlichkeit. Wir haben uns daran gewöhnt. Die Medien präsentieren täglich Bilder von menschlichem Elend in Krisengebieten der Welt und in unserer Alltagsumgebung ist uns der Anblick ausgemergelter DrogenkonsumentInnen oder verelendeter obdachloser Menschen längstens vertraut.
Die tatsächlichen Zusammenhänge sind allerdings weniger offensichtlich: Armut als Lebenslage und die damit verbundene Ausgrenzung als gesellschaftlicher Prozess werden häufig verdrängt und tabuisiert. Gemäss dem Bundesamt für Statistik waren 2012 in der Schweiz 590’000 Personen von Einkommensarmut betroffen, weitere 1,19 Millionen Personen waren armutsgefährdet. Von Armut betroffen sind in der Schweiz vor allem Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche, Langzeitarbeitslose, ältere Frauen, Personen mit geringer beruflicher Qualifikation sowie Migrantinnen und Migranten.
Nationale Tagung Gesundheit & Armut
Freitag, 24. Juni 2016 in Bern
Detailprogramm und Anmeldung
Durch die negative Bewertung von Armut laufen Betroffene in unserer Gesellschaft Gefahr zu Tätern abgestempelt zu werden: wer unter Armut und Ausgrenzung leidet ist «selber schuld» an seiner Lebenslage, lässt sich gehen, ist nicht aktiv genug, bemüht sich nicht ausreichend. Dazu kommt, dass Arme schlechter gegen Krankheiten und ihre Folgen abgesichert sind. Immer noch gibt es auch in der Schweiz Menschen ohne Krankenversicherung (z.B. Sans Papiers) und für Versicherte in finanziell schwieriger Lage ist bereits der Selbstbehalt einer Behandlung unerschwinglich. Durch Krankheitskosten und Zuzahlungen erhöht sich wiederum das Armutsrisiko. Durch Verzicht auf Behandlung verschlimmern sich Erkrankungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen. Ein Teufelskreis, den man, will man ihn verstehen, genauer ansehen muss.
Diagramm: Zusammenhänge zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit nach Rosenbrock
Armut und Krankheit: Ein Teufelskreis
Die im «Black-Report» zu Beginn der 80er Jahre von Townsend und Davidson veröffentlichten Erklärungsansätze für gesundheitliche Ungleichheiten sind bis heute Ausgangspunkt von empirischen wie theoretischen Überlegungen.
- Krankheit macht arm: Die «soziale Selektionshypothese» geht davon aus, dass Krankheit und schlechte Gesundheit zu sozialen Problemen führen. Wer krank ist, steigt ab, wer gesund ist, steigt auf. Der Gesundheitszustand bestimmt den sozioökonomischen Status.
- Armut macht krank: Es besteht aber auch ein Zusammenhang in die andere Richtung. Über Einkommen, Beruf, Bildungsabschlüsse und soziale Teilhabe ergeben sich unterschiedliche Lebensbedingungen mit unterschiedlichen Wohnverhältnissen, Arbeitsplätzen und Erholungsräumen. Dadurch werden die Alltagsbelastungen ungleich verteilt und führen zu höheren gesundheitlichen Risiken bei armutsgefährdeten Personen. Sei dies physisch, wie durch die schlechte Luftqualität in Wohnungen an verkehrsbelasteten Strassen, oder psychisch, wie etwa der chronische Stress in einem prekären und unsicheren Alltag.
Diese Erklärungsansätze schliessen einander nicht aus, im Gegenteil, sie setzen an verschiedenen Seiten und Enden der Wirkungsmechanismen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten an. Kurz gefasst: zum höheren Krankheits- und Sterberisiko von Armut betroffener Menschen führen die Unterschiede
- in den gesundheitlichen Belastungen
- in den Bewältigungsressourcen und Erholungsmöglichkeiten
- in der gesundheitlichen Versorgung und
- im Gesundheits- und Krankheitshandeln.
Es liegt auf der Hand, dass Abhilfe nicht durch einzelne Akteure sondern durch eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik geschaffen werden kann. Wie diese aussehen könnte und welche Lösungsansätze die gesundheitliche Chancengleichheit in der Schweiz erhöhen würden, diskutiert das BFH-Zentrum Soziale Sicherheit an der zweiten nationalen Tagung Gesundheit & Armut vom 24. Juni 2016 in Bern.
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Literatur
- Rosenbrock, Rolf (2006):Primärprävention als Beitrag zur Verminderung sozial Bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen. In Richter, M. / Hurrelmann, K. (Hg.): Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 371-388.
- Townsend, P. / Davidson, N. (HG.) (1982): Inequalities in Health. The Black Report and the Health Divide. Harmondsworth: Penguin Books
3 Kommentare
Ansgar
Nachwuch droht Gehalt auf Hartz-4-Niveau
Ende der Wohlstands-Ära: Die Jungen werden ärmer als ihre Eltern
http://www.stern.de/wirtschaft/geld/mckinsey-studie–die-jungen-werden-aermer-als-ihre-eltern-6971346.html
oder auch ganz lecker: Verarmung als Megatrend – siehe auch: https://www.berlinjournal.biz/verarmung-kinder-aermer-als-eltern/
Laut Politik müsse man sich «integrieren» (nach Definition der Politik was das denn angeblich sei). Dazu braucht es in der heutigen Zeit üppige Geldmittel, die die meisten Leute, die angeblich «nicht integriert» sind (auch sehr viele Deutsche).
Auf einen Zusammenhang stieß die britische Soziologin Marii Peskow in der European Social Survey (ESS): Demnach sei die Bereitschaft zur Wohltätigkeit in egalitären Gesellschaften deutlich schwächer ausgeprägt, als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Die Erklärung dafür liege im sozialen Statusgewinn, den Wohlhabende in ungleichen Gesellschaften erfahren würden, wenn sie Schwächere unterstützten. In egalitären Gesellschaften herrsche hingegen das Bewusstsein vor, dass dank des Sozialstaats für die Schwachen schon gesorgt sei.
Faulheit gilt in den westlichen Industrienationen als Todsünde. Wer nicht täglich flott und adrett zur Arbeit fährt, wer unbezahlte Überstunden verweigert, lieber nachdenkt als malocht oder es gar wagt, mitten in der Woche auch mal bis mittags nichtstuend herumzuliegen, läuft Gefahr, des Schmarotzertums und parasitären Lebens bezichtigt zu werden.
Nein, stopp: Nur die armen Arbeitslosen fallen in die Schublade »Ballastexistenz«. Millionenerben, Banker- und Industriellenkinder dürfen durchaus lebenslang arbeitslos und faul sein. Sie dürfen andere kommandieren, während sie sich den Bauch auf ihrer Jacht sonnen.
Früher glaubten viele Menschen an einen Gott. Wie viele heute noch glauben, da oben säße einer, der alles lenke, weiß ich nicht. Das ist auch egal. Gottes ersten Platz hat im modernen Industriezeitalter längst ein anderer eingenommen: Der »heilige Markt«. Der Finanzmarkt. Der Immobilienmarkt. Der Energiemarkt. Der Nahrungsmittelmarkt. Und der Arbeitsmarkt.
Der Arbeitsmarkt ist, wie der Name schon sagt, zum Vermarkten von Arbeitskraft da. Wer kein Geld und keinen oder nur sehr wenig Besitz hat, verkauft sie. Die Eigentümer der Konzerne konsumieren sie, um daran zu verdienen. Das geht ganz einfach: Sie schöpfen den Mehrwert ab. Sprich: Der Arbeiter bekommt nur einen Teil seiner Arbeit bezahlt. Den Rest verrichtet er für den Gewinn des Unternehmers.
Arbeit verkaufen, Arbeit konsumieren: So geschieht es seit Beginn der industriellen Revolution. Denn Sklaverei und Leibeigenschaft wurden ja, zumindest auf dem Papier, abgeschafft.
Solange Furcht vor Strafe, Hoffnung auf Lohn oder der Wunsch dem Über-Ich zu gefallen, menschliches Verhalten bestimmen, ist das wirkliche Gewissen noch gar nicht zur Wort gekommen. (VIKTOR FRANKL)
Die Todsünde der Intellektuellen ist nicht die Ausarbeitung von Ideen, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen, sondern das Verlangen, diese Ideen anderen aufzuzwingen (Paul Johnson)
Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden, in lockende Gestalt… (Shakespeare)
Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation (Cioran)
Alle Menschen sind klug – die einen vorher, die anderen nachher (Voltaire)
Die Gefahr ist, dass die Demokratie zur Sicherung der Gerechtigkeit für diese selbst gehalten wird (Frankl)
Absolute Macht vergiftet Despoten, Monarchen und Demokraten gleichermaßen (John Adams)
Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer (Schopenhauer)
Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen (Kant)
Denn mancher hat, aus Furcht zu irren, sich verirrt (Lessing)
Die Augen gingen ihm über, so oft er trank daraus… (Goethe)
Immer noch haben die die Welt zur Hölle gemacht, die vorgeben, sie zum Paradies zu machen (Hölderlin)
So viele Gefühle für die Menschheit, dass keines mehr bleibt für den Menschen (H. Kasper)
«Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden» (Helmut Schmidt)