Menschen in finanziell prekären Verhältnissen verzichten häufig auf Leistungen der Gesundheitsversorgung, obwohl diese obligatorisch versichert sind. Auch nutzen sie seltener Vorsorgemöglichkeiten. Warum tun sie das? Und warum tragen Versicherte in der Schweiz generell einen im internationalen Vergleich sehr hohen Anteil der Behandlungskosten selbst? Und weshalb schafft es die Politik bisher nicht Gegensteuer zu geben?
In den Augen vieler Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes hat die Schweiz eines der weltbesten Gesundheitssysteme. Im Vergleich zu anderen OECD-Staaten hat sie nach den USA die zweithöchsten Gesundheitskosten pro Kopf, etwa gleichauf mit Luxemburg, Norwegen und den Niederlanden. Der OECD-Bericht zur Schweiz zeigt ebenfalls, dass der Selbstzahlungsanteil am Gesamtaufwand der Krankheitsversorgung in der Schweiz rund 30 Prozent beträgt. Dieser Wert wird in Europa nur von Griechenland übertroffen. In absoluten Zahlen sind die Selbstzahlungen der Schweizer Haushalte gar deutlich höher als in allen anderen Ländern.
Die Erklärungen dafür sind vielschichtig. Bekanntlich haben wir für Erwachsene zunächst eine Franchise von mindestens 300 Franken, darüber hinaus den Selbstbehalt von 10 Prozent der Behandlungskosten – bis zu einer Obergrenze von 700 Franken – sowie eine tägliche Spitaltaxe von 15 Franken. Von der Möglichkeit, eine höhere Franchise zu wählen und somit die Prämie zu senken, können realistischerweise nur jene profitieren, die etwas Geld auf der Seite haben. Zu erinnern ist ausserdem an die Zahnarztkosten, die wir bis auf einige Ausnahmen selbst bezahlen.
Wenige Generika und viele Eingriffe
Beim Thema Selbstbehalt muss natürlich auch das Preisniveau der Behandlungen angesprochen werden. Zurzeit wird beispielsweise über ein Referenzpreissystem für Medikamente debattiert, da die Preise in der Schweiz deutlich höher sind als in den umliegenden Ländern. Zudem liegt der Anteil an Generika weit tiefer, weil ein grosser Anreiz besteht, das teure Originalmedikament an Stelle des günstigeren Produkts zu verabreichen. Hinzu kommt, dass selbst Generika etwa doppelt so teuer sind wie jenseits der Grenze. Ebenfalls gibt es Fehlanreize für kostenintensive medizinische Eingriffe. So bedeuten schonende Behandlungen in der Regel geringere Margen, womit diese für Spitäler weniger attraktiv erscheinen, auch wenn sie für den Heilungsprozess keinen Nachteil darstellen.
Die Schlussfolgerung liegt nahe: Wenn die zu erwartenden Gesamtkosten für Behandlungen hoch sind – höher als sie mit Blick auf das Wohl der Patientinnen und Patienten sein müssten – und wenn dabei ein prozentualer Selbstbehalt anfällt, dann zögern Menschen in Armutsverhältnissen, sich einer Behandlung zu unterziehen.
Bundesrat relativiert Anzahl Betroffener
Zu dieser Thematik erstellte der Bundesrat vor gut drei Jahren den Bericht «Kostenbeteiligung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung». Auslöser war ein Postulat der damaligen Nationalrätin Barbara Schmid-Federer (CVP). In seinem Bericht kommt der Bundesrat zum Schluss, dass der Anteil jener Personen, die aus Kostengründen auf medizinische Leistungen verzichten, etwa 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung beträgt. Zum Teil seien dies jedoch nicht im engeren Sinne notwendige Behandlungen. Der Anteil jener, die auf notwendige Leistungen verzichten würden, befinde sich im unteren einstelligen Prozentbereich. Laut Bundesrat handelt es sich um kein gravierendes Thema und Familien seien nicht übermässig betroffen. Allerdings gibt es in der Schweiz etwa 3,9 Millionen Privathaushalte. Ein Prozent macht also bereits 39’000 Haushalte aus, fünf Prozent entsprächen knapp 200’000 Haushalten. Bei aller Unsicherheit solcher Schätzungen muss festgestellt werden, dass die Betroffenheit nicht gering ist.
Interessanterweise hatte der Bundesrat mit seiner Strategie «Gesundheit 2020» vier Jahre zuvor eine Massnahme in Aussicht gestellt, welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einzelner Versicherter stärker berücksichtige. Auch Nationalrätin Schmid-Federer verlangte in ihrem Postulat zu prüfen, ob die Höhe der Franchise aufgrund des steuerbaren Einkommens oder der Anzahl unterstützungsbedürftiger Angehöriger festgelegt werden könne. Laut Bundesrat brächte dieser Wechsel jedoch viele Nachteile und würde daher nicht weiterverfolgt. Allerdings bezog er sich dabei bloss auf die Franchise, nicht auf den Selbstbehalt oder die Spitaltaxe.
Günstigere Prävention oder höhere Kostenbeteiligung
Seither gab es bezüglich Selbstzahlungen weitere, teils widersprüchliche Bemühungen. Mit dem Ziel einer Kostensenkung bei der obligatorischen Krankenversicherung wurde unter der Flagge der Eigenverantwortung mehrfach beantragt, auch im ambulanten Sektor einen Fixbetrag pro Arztbesuch zu verlangen oder die Kostenbeteiligung parallel zum Anstieg der Gesamtkosten regelmässig anzupassen. Es ist offensichtlich, dass solche Massnahmen Menschen in prekären Lebenslagen vom Arztbesuch abhalten könnten. In die andere Richtung geht die Motion «Förderung von Präventionsmassnahmen im KVG durch Befreiung von der Kostenbeteiligung» von Nationalrätin Regula Rytz (GRÜNE), welche vorbeugende Massnahmen – namentlich Impfungen und Screenings – von Franchise und Selbstbehalt befreien möchte. Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion, in den Räten wurde sie noch nicht behandelt.
4. Nationale Tagung Gesundheit & Armut
Verzicht und Entbehrung: Wenn Armutsbetroffene Gesundheitsleistungen nicht in Anspruch nehmen
21. Januar 2021 – Online
Die Tagung will das wenig diskutierte, aber gesellschaftspolitisch wichtige Thema des Verzichts auf Gesundheitsleistungen wissenschaftlich fundiert auf die Agenda von Öffentlichkeit und Politik setzen. Sie wird von der BFH in Zusammenarbeit mit renommierten Partnerorganisationen und Institutionen organisiert.
Unter anderem mit Referaten von:
- Dr. Yves Jackson, Hôpitaux Universitaires de Genève
- Dr. Maria Trottmann, Fachspezialistin Leistungsdaten und Versorgungsforschung SWICA
- Dr. Wolfgang Bürgstein, Kommission Justitia et Pax
Kontakt:
Literatur und weiterführende Links:
- Bundesrat (2017): Kostenbeteiligung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, Bern
- Eidgenössisches Departement des Innern EDI (2013): Gesundheit2020 – Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates, Bern
- Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD & Word Health Organisation WHO (2011): OECD-Bericht über Gesundheitssysteme – Schweiz, Paris, Bern
- Rytz, Regula (2019): Motion 19.3870 – Förderung von Präventionsmassnahmen im KVG durch die Befreiung von der Kostenbeteiligung
- Schmid-Federer, Barbara (2013): Postulat 13.3250 – Auswirkung der Franchise auf die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen
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