Zielvereinbarungen sind in der bernischen Sozialhilfe Pflicht. Gemäss Gesetzgeber gibt es ohne sie keine Sozialhilfe und keine Integrationszulage, ausser es gibt wichtige Gründe davon abzusehen – z.B. kurzfristige Bevorschussung oder Überbrückungshilfe. Ziele zu erarbeiten und umzusetzen ist ein höchst anspruchsvoller Prozess – nicht zuletzt aufgrund institutioneller Vorgaben. Damit Zielarbeit gelingen kann, sollte sie praktikabler werden.
Eine Befragung von Sozialarbeitenden zu Ihren Erfahrungen mit Zielvereinbarungen zeigt auf, wie wenig die Ziele der Klientinnen und Klienten mit denjenigen des Sozialdienstes vereinbar sind. Die Ziele würden häufig nicht erreicht aufgrund formaler Hürden. Die Dokumente zur Zielvereinbarung werden als starr und unflexibel beschrieben. Ausserdem werden die zeitlichen Ressourcen und Unsicherheit in der persönlichen Beratungskompetenz bemängelt. Das führt gemäss Befragung dazu, dass Ziele häufig nur jährlich thematisiert und verschriftlicht werden.
Perspektive von langzeitarbeitslosen Sozialhilfebeziehenden
Aus Sicht von langzeitarbeitslosen Sozialhilfebeziehenden werden dagegen ihre persönlichen Bedürfnisse kaum einbezogen. Primär stünden arbeitsbezogene Ziele im Fokus der sozialarbeiterischen Hilfe. Dies zeigt eine Studie zur Mitwirkung beim Vereinbaren von Zielen.
Klientinnen und Klienten der Sozialdienste haben oft gemeinsam, dass sie in mehrfach belasteten Systemen leben. Das heisst, ihre Lebenskontexte wechseln teilweise rasch und sind wenig strukturiert. Oft geht dem Sozialhilfebezug eine langjährige Leidensgeschichte mit vermindertem Selbstwert- und Selbstwirksamkeitsgefühl voraus. Ziele zu stecken, setzt ein Orientierung gebendes Motiv für das eigene Leben voraus. Das ist für Sozialhilfebeziehende nicht selbstverständlich, da ihre Selbstbestimmung eingeschränkt wird und sie sozialen Benachteiligungen ausgesetzt sind.
Formalitäten prägen Beratungsarbeit
Bei der Zielarbeit in der Sozialhilfe scheint also häufig nicht die Klientel im Fokus zu stehen, sondern das Einhalten der kantonalen Richtlinien für Zielvereinbarungen. In Hinblick auf die stark bürokratisch geprägten Sozialdienste erstaunt das nicht. Wenn ein Mensch aber persönliche Perspektiven entwickeln soll, braucht es in der Beratung nebst Motivationsarbeit auch mehr Handlungsspielraum bei der formalen Ausgestaltung. Die Herausforderung in der Zielarbeit zeigt sich aktuell in der Unvereinbarkeit von korrekter Dokumentation und wirkungsvoller Beratungsarbeit.
Mehr Balance in der Zielarbeit
Damit die Zielarbeit in der Sozialhilfe wirkungsvoll im Sinne echter Motivationsarbeit gelingen kann, braucht es eine Balance zwischen den institutionellen Zielvereinbarungen und dem Fokus auf den Prozess. Bei der Zielarbeit wird unterschieden zwischen der Zielvereinbarung mit den Grobzielen, die sich an den kantonalen Richtlinien orientieren, und der Prozessdokumentation mit wichtigen Fokusthemen, die stärker auf Bedürfnisse der Klientel eingehen (vgl. Grafik).
Zielvereinbarungsdokument: Grobziele
Das institutionelle Zielvereinbarungsdokument wird genutzt, um die geforderten Vorgaben zu erfüllen. Darin sollen Ziele, Rechte und Pflichten der Klientinnen und Klienten sowie die Erwartungen des Sozialdienstes (z.B. Integration in den ersten Arbeitsmarkt) sichtbar gemacht werden. Diese transparente Haltung orientiert sich an den psychischen Grundbedürfnissen, die hoch relevant sind für eine wirkungsvolle Zielarbeit. Transparenz schafft Autonomie.
Prozessdokumentation: Fokusthemen
Die Fokusthemen orientieren sich an den Grobzielen oder anderen Themen der Klientel, nehmen jedoch explizit die kleinen Schritte zu diesen Zielen hin in den Blick (vgl. Grafik). Sie werden in einem separaten Dokument, in Form eines Prozessprotokolls, bearbeitet. Im Unterschied zum Zielvereinbarungsdokument dient dieses Dokument als Arbeitsinstrument in den Beratungssituationen. Es bezieht die rasch wechselnden Lebensrealitäten der Sozialhilfebeziehenden ein, ohne den Blick auf die Ziele zu verlieren.
Besonders beachten sollte man bei den Fokusthemen: Um Ziele zu setzen und zu befolgen, benötigt der Mensch positive Emotionen. Deshalb müssen die Ziele als machbar eingeschätzt, gleichzeitig aber auch als genug sinn- und anspruchsvoll erachtet werden. Ausreichend anspruchsvolle und dennoch machbare Teilschritte führen zu kleinen Erfolgsmomenten. Dies kann das Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken.
Mehr Arbeit oder Nutzen?
Auf den ersten Blick sieht diese Aufteilung der Zielarbeit nach Mehrarbeit aus. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, wie sich durch die Entwirrung der unterschiedlichen Aufträge und Erwartungen das Dilemma der Sozialarbeitenden auflösen kann. Zielarbeit ist lebendig und eine Prozessarbeit mit den Klientinnen und Klienten. Die Sozialarbeitenden sind verantwortlich für eine zuverlässige Kontinuität bei der Themenbesprechung: Sie nehmen wiederholt Bezug auf Besprochenes. Immer mit dem Wissen: Ziele wirken, wenn sie persönlich bedeutsam sind. Zielvereinbarungen wirken, wenn sie wirklich bearbeitet werden.
Kontakt:
Artikel und Berichte:
- Sozialhilfegesetz (SHG). Art. 27 Gewährung der Hilfe.
- Handbuch Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE). Stichwort Integrationszulage (IZU).
- Junker, Kathrin. (2018). Zielvereinbarungen als Dilemma in der Sozialhilfe. Ein Klärungsversuch. (Unveröffentlichte MAS-Thesis). Berner Fachhochschule – Fachbereich Soziale Arbeit: Bern.
- Kobel, Peter & Mauchle, Jessica. (2015). Partizipation beim Vereinbaren von Zielen. (Unveröffentlichte Bachelor-Thesis). Berner Fachhochschule – Fachbereich Soziale Arbeit: Bern.
- Wüsten, Günther. (2013). Mit Zielen arbeiten trotz widriger Umstände.
- Heckhausen, Jutta & Heckhausen, Heinz. (2010). Motivation und Handeln: Einführung und Überblick. In Jutta, Heckhausen & Heinz, Heckhausen (Hrsg.), Motivation und Handeln (S. 1–9). Berlin: Springer.
- Pfister-Wiederkehr, Daniel. (2019). Beraten & Coachen. Lösungs- und Kompetenzorientierte Bausteine für erfolgreiche Gesprächsführung kurz und prägnant. Norderstedt: BoD.
- Lüttringhaus, Maria & Streich, Angelika. (2007). Wo mein Wille ist auch dein Weg. In Stefan, Gillich (Hrsg.), Nachbarschaften und Stadtteil im Umbruch (S. 135-149). Gelnhausen: Triga.
- Bandura, Albert. (1997). Self-efficacy. The exercise of control. New York: W.H. Freeman.
Weiterführende Links:
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