Die Wohnangebote für Menschen mit einer Behinderung sind im Wandel. Die Gründe dafür liegen im Spannungsverhältnis der Prinzipien der Fürsorge und der Emanzipation. Für die schweizerische Sozialpolitik ist es hilfreich diesen Konflikt zu verstehen und einen Blick ins Ausland zu werfen.
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von 2006 führte zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit Behinderung. Während Behinderung lange hauptsächlich als Frage der Fürsorge und Unterstützung galt, wird sie neu als Menschenrechtsthema betrachtet. Die von der Schweiz im Jahre 2014 ratifizierte Menschenrechtskonvention hat zahlreiche Implikationen für die Praxis der Sozialen Arbeit. Während die «klassische» sozialpolitische Ausrichtung den Menschen mit einer Behinderung als passives, hilfsbedürftiges Objekt angesehen hat, führt der Paradigmenwechsel dazu, Menschen mit einer Behinderung als Subjekte mit eigenen Rechten zu begreifen. In der Behindertenpolitik müssen deshalb die klassischen Politikfelder der Existenzsicherung und der Rehabilitationspolitik neu mit einem gleichstellungspolitischen Fokus erweitert werden.
Ersichtlich ist der Paradigmenwechsel in der Schweiz zum Beispiel daran, dass mit dem 2004 in Kraft getretenen Behindertengleichstellungsgesetz und der Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2014 zwei neue Rechtinstrumente zu den bereits bestehenden sozialpolitischen Instrumenten wie der Invalidenversicherung dazugekommen sind. Insgesamt ist dies Teil einer grösseren Entwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Politiken und Institutionen der sozialen Sicherheit seit den 1960er-Jahren verstärkt mit neuen emanzipatorischen sozialen Bewegungen konfrontiert werden. Die Aushandlung zwischen den klassischen Kräften, Politiken und Institutionen der sozialen Sicherheit und denjenigen der Emanzipation verläuft dabei nicht konfliktfrei und führt häufig zu Spannungsfeldern.
Dilemmatische Konflikte beim Thema Wohnen
Ein spannendes und aktuelles Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Gestaltung der Wohnangebote für Menschen mit einer Behinderung. Hier gab es in der Schweiz bereits ab Ende der 1970er-Jahre Kritik an bestehenden Einrichtungen und Wohninstitutionen, denen eine paternalistische Grundausrichtung, ein Hang zur Segregation und das Fehlen von Subjektorientierung und Selbstbestimmung vorgeworfen wurden. Die UN-BRK hat die grundlegende Kritik der emanzipatorischen Behindertenbewegung nun aufgenommen und bekräftigt. Kürzlich wurde die Schweiz nun vom UN-Expert*innengremium für das Fehlen einer Strategie zu selbstbestimmtem Wohnen kritisiert. Gerade im europäischen Vergleich erscheinen die Reformbestrebungen bei schweizerischen Wohnangeboten für Menschen mit einer Behinderung eher zögerlich, wobei festgehalten werden muss, dass die Ausgestaltung und die Reformbestrebungen kantonal sehr unterschiedlich sind.
Grundsätzlich besteht für kommende Reformen eine spezifische Krux: Die Fürsorge und Unterstützung des sozialen Sicherungssystems steht im Spannungsverhältnis zur emanzipatorischen Selbstbestimmung. Diese Spannung kann entweder dilemmatisch aufgelöst oder kompromissorientiert abgemildert werden. Im Kern geht es um die Frage, ob man den Paradigmenwechsel als eine Gegenentscheidung zu bisherigen Wohninstitutionen hin zur radikalen Selbstbestimmung versteht oder ob man das Bestehende mit dem Neuen in einen Kompromiss zu bringen versucht.
Vom Ausland lernen
Ein Blick ins Vereinigte Königreich und nach Schweden – den europäischen Pionieren des selbstbestimmten Lebens – macht ersichtlich, dass mit diesem Spannungsfeld ganz unterschiedlich umgegangen werden kann: Im Vereinigten Königreich kam es mit der Hinwendung zur Gleichstellungspolitik zu einem Abbau von Unterstützungsleistungen. Dagegen blieb in Schweden der Paradigmenwechsel hin zur Gleichstellungspolitik stark sozialpolitisch flankiert.
Sowohl das Vereinigte Königreich wie auch Schweden haben in den letzten dreissig Jahren eine umfassende De-Institutionalisierung eingeleitet. Für Menschen mit einer Behinderung wurden gemeindenahe und subjektorientierte Wohnmöglichkeiten geschaffen und (grössere) Wohninstitutionen geschlossen. Schweden hat zum Beispiel bereits in den 1990er-Jahren Wohnangebote mit mehr als 30 Bewohner*innen verboten und so die Wohninstitutionen dazu gezwungen, gemeindenäher und kleinräumiger zu werden. Im Vereinigten Königreich fanden zahlreiche Schliessungen und Auflösungen von Wohninstitutionen unter New Labour in den 2000er Jahren statt. Zudem haben beide Staaten ihre Assistenzmodelle stark ausgebaut.
Bezüglich der Wirkungen verliert das Vereinigte Königreich jedoch zunehmend seinen Nimbus als progressives Pionierland. Die neuen Unterstützungsleistungen sind nach der De-Institutionalisierung sehr prekär finanziert. Das Vereinigte Königreich zeigt, dass Selbstbestimmung für gewisse Menschen mit einer Behinderung nicht einfach zu garantieren ist und ein Rückzug des Sozialstaates sie stark gefährdet. In Schweden kann dagegen keinesfalls von einem Rückzug des Staates gesprochen werden. Hier wurde der Paradigmenwechsel hin zur Gleichstellung gleichzeitig stark sozialpolitisch begleitet und finanziert. So konnte die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung gestärkt und allfällige Risiken abgefedert werden.
Der schweizerische Weg
Dieser Vergleich zeigt, eine Hinwendung zu mehr Gleichstellung in der Behindertenpolitik muss keine versteckte Sparagenda beinhalten. Ebenfalls widerlegt er Stimmen, welche die De-Institutionalisierung als automatischen und allumfassenden Fortschritt preisen. Die Zukunft bleibt stattdessen offen und benötigt offene Aushandlungsprozesse unter dem Einbezug von etablierten Vertreter*innen des Sozialstaates und der Wohninstitutionen sowie von Vertreter*innen der Emanzipationsbewegungen. Es ist zu hoffen, dass das politische System der Schweiz hier einmal mehr zu tragfähigen Kompromisslösungen beitragen kann.
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Artikel und Berichte
- Tschanz, C. (2018). Theorising Disability Care (Non-)Personalisation in European Countries: Comparing Personal Assistance Schemes in Switzerland, Germany, Sweden, and the United Kingdom. Social Inclusion, 6(2), 22-33.
- Tschanz, C. (2022). Real Distributive and Emancipatory Dilemmas Within Disability Policy Regimes: Comparative Perspectives with a Focus on Switzerland. (Doctoral dissertation, University of Fribourg).
- Tschanz, C. (im Erscheinen). Disability Care Services Between Welfare Regime Pre-conditioning and Emancipatory Change to Independent Living: A Comparison of 10 European Cases with Fuzzy Set Ideal-type Analysis. (Erscheint in der Herbstausgabe 2022 von Alter – European Journal of Disability Research).
Literatur und weiterführende Links
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- Fraser, N. (2015). Dreifachbewegung. Die politische Grammatik der Krise nach Karl Polanyi. In M. Brie (Hrsg.), Polanyi neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zu einem möglichen Dialog von Nancy Fraser & Karl Polanyi (S. 100-115). Hamburg: VSA.
- Fritschi, T., von Bergen, M., Müller, F., Bucher, N., Ostrowski, G., Kraus, S., & Luchsinger, L. (2019). Bestandesaufnahme des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen. Bern: Berner Fachhochschule.
- Fritschi, T., von Bergen, M., Müller, F., Lehmann, O., Pfiffner, R., Kaufmann, C., & Hänggeli, A. (im Erscheinen). Finanzflüsse und Finanzierungsmodelle im Bereich Wohnangebote für Menschen mit Behinderung. Bern: Berner Fachhochschule.
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- McGowan, B. (2011). Die Zeitschrift PULS – Stimme aus der Behindertenbewegung. In E. O. Graf, C. Renggli & J. Weisser (Hrsg.), PULS – DruckSache aus der Behindertenbewegung. Materialien für die Wiederaneignung einer Geschichte (S. 13-73). Zürich: Chronos.
- Rieder, A. (2017). Die Bedeutung der UNO-Behindertenrechtskonvention für die Schweiz. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 23(3), 22-26.
- United Nations (2022). Concluding observations on the initial report of Switzerland. United Nations: Committee on the Rights of Persons with Disabilities.
- Waldschmidt, A. (2011). Existenzsicherung – ein soziales Recht? Überlegungen zur Theorie der Behindertenpolitik unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit schwerer Behinderung. In M. Dederich & K. Grüber (Hrsg.), Herausforderungen: mit schwerer Behinderung leben (2. Auflage, S. 61-74). Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag.
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