Selbst mit einem massiven Ausbau kann das existierende Pflegesystem mit der Alterung der Gesellschaft nicht Schritt halten. Die sich ändernden Bedürfnisse der kommenden Seniorengeneration ermöglichen jedoch neue, innovative Lösungen.
Wo werde ich meinen Lebensabend verbringen? Unter welchen Bedingungen werde ich im Alter leben? Früher oder später wird sich jeder diesen Fragen stellen müssen, die eine führt zwangsläufig zur nächsten. Ohne alle Aspekte dieser beiden Fragen abzudecken, steht das Wohnen im Mittelpunkt des gesunden Alterns. Über die strukturellen und funktionalen Aspekte hinaus betrifft das Wohnen die unmittelbare Lebensqualität, denn es geht um Fragen der Identität und Existenz.
Älteren Menschen leiden unter erzwungener Mobilität
Irgendwo zu leben bedeutet, sich zu Hause zu fühlen, ist das Ergebnis eines Aneignungsprozesses: die Aneignung des Raumes, die Fähigkeit, in diesem Raum seine Unabhängigkeit zu wahren, die Möglichkeit «den Raum seiner Privatsphäre» abzugrenzen und dessen Nutzung zu bestimmen. Der Faktor Zeit ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Gefühls und er erhält im zunehmenden Alter eine vermittelnde Doppelrolle in Bezug auf das Wohnen: die gelebte Zeit als inhärenter Bestandteil der eigenen Identität, aber auch als wesentliches Risiko für die Gesundheit von älteren Menschen. Je länger man an einem Ort gelebt hat, desto mehr Spuren man hinterlassen hat, je mehr Erinnerungen und Gewohnheiten mit einem Ort verbunden sind, desto schwieriger wird es, sich vorzustellen, sein Leben an einem anderen, fremden Ort zu verbringen.
Die Verwurzelung des Individuums ist ein integrativer Bestandteil seiner Biografie und daher ist ein Umzug mit einer Entwurzelung gleichzusetzen. Die Vertrautheit mit dem Wohnort stärkt die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die gelebten Jahre sind aber auch die Ursache für das Altern der Organe, einschließlich der Alterung des Gehirns. Ist jemand gezwungen, seine Wohnung zu verlassen, weil er nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, wirkt sich das auf doppelte Weise aus: einerseits hinsichtlich der bisherigen Gewohnheiten und andererseits hinsichtlich ihrer Fähigkeit, sich von der Entwurzelung zu erholen und an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Diese «erzwungene Mobilität» wird von der Person, die ihre Wohnung verlassen musste, als schmerzhaft erlebt, und im weiteren Sinne werden auch die Angehörigen darunter leiden.
Alternativen zur stationären Langzeitpflege erforderlich
Angesichts der zahlreichen Gesundheitsfaktoren im Zusammenhang mit dem Wohnen ist es unerlässlich, diesem Thema in der Sozial- und Gesundheitspolitik einen vorrangigen Platz einzuräumen, damit eine Anpassung an die alternde Gesellschaft möglich wird. Laut den Prognosen des Bundesamtes für Statistik müssen bis 2045 mindestens 70’000 zusätzliche Plätze in Alters- und Pflegeheimen geschaffen werden, um den demografischen Wandel zu bewältigen. Die verschiedenen Organisationen im geriatrischen Bereich sind sich einig, dass eine solche Strategie in einem derartigen Umfang nicht realisierbar ist und dass das Pflegesystem für ältere, pflegebedürftige Menschen durch die Schaffung von Alternativen neu überdacht werden muss, um den Druck auf die stationäre Versorgung in Langzeitpflegeinstitutionen zu mindern. Es geht darum, das Angebot zu diversifizieren, die Pflegekette als Ganzes zu optimieren und die Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren weiterzuentwickeln. In der Schweiz müssten Pflegeheim-Plätzen älteren, stark pflegebedürftigen Menschen vorbehalten und parallel dazu der Ausbau verschiedener Wohnoptionen angekurbelt werden.
Diese Entwicklung hat bereits begonnen. Heutzutage lebt in der Schweiz nur eine Minderheit der Seniorinnen und Senioren im Pflegeheim und seit 2006 lässt sich ein fortlaufender Rückgang des Anteils in Pflegeheimen beobachten (2017 lebten 5,5% der Bevölkerung über 65+ lebten im Pflegeheim, im Vergleich zu 6,4% im Jahr 2006).
Ältere Menschen haben heute andere Bedürfnisse
Neben der demografischen Alterung hat ein kultureller Wandel stattgefunden und das Profil der neuen Seniorengenerationen hat sich grundlegend geändert. Die heutige ältere Generation verfügt über mehr finanzielle Mittel – durch Ersparnisse, Pensionskasse und die private Vorsorge der dritten Säule – während sich die vorangegangenen Generationen im schlimmsten Fall mit der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) zufriedenstellen mussten. Zudem haben sie in ihrem Leben Veränderungen auf der Beziehungsebene und in den familiären Strukturen erlebt. Die Scheidungsrate ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark angestiegen. Patchwork-Familien und Einzelhaushalte sind häufiger. Gleichzeitig ist die Geburtenrate gesunken, was zum Anstieg der Einsamkeit im hohen Alter führt. Durch die Stärkung der Rolle der Frau, den Zugang zu Verhütungsmitteln, die seit 49 Jahren vollständigen Bürgerrechte für Frauen und die zunehmende Teilnahme von Frauen am Berufsleben haben sich die Geschlechterbeziehungen verändert. Zu guter Letzt genießen heutige Senioren im vergleichbaren Alter eine allgemein bessere Gesundheit.
Daraus ergeben sich Lebensgewohnheiten, die sich durch mehr Mobilität und Flexibilität auszeichnen – z.B. vielfältigere berufliche Lebensläufe, leichterer Zugang zu Ausbildungen, zahlreiche Lebenserfahrungen – und stärker durch Individualismus und Autonomie geprägt sind. Die Schnittmengen dieser verschiedenen Dimensionen, die durch Heterogenität und die Verfügbarkeit von intellektuellen und materiellen Ressourcen gekennzeichnet ist, stellen ein großes Potenzial an Kreativität aber auch an Erwartunghaltungen dar, die es zu erfüllen gilt.
Neue Wohnformen und Konzepte der Gesundheitsversorgung
In diesem Zusammenhang tauchen neue Formen des Wohnens auf. Die Betroffenen selbst befassen sich aktiv, was sie in höherem Alter erwartet, behaupten sich als Akteure und beeinflussen die Gestaltung ihres Wohnraums selbst. Private und öffentliche Initiativen – wie zum Beispiel betreutes Wohnen – sind Teil kommunaler Gesundheits- und Alterskonzepte. Viele Studien belegen heute den Zusammenhang zwischen der Einsamkeit älterer Menschen und der Verschlechterung der motorischen Funktionen oder einem signifikant höheren Risiko kognitiver Störungen. Aus der Sicht des Empowerment-Ansatzes ist es wichtig, die Bevölkerung und Betroffene hier auf den verschiedenen Ebenen der Wohnprojektgestaltung einzubeziehen. Durch die Zusammenkunft von Seniorinnen und Senioren mit Akteuren vor Ort – Fachkräften aus dem Sozial- und Gesundheitswesen, Politikern, Unternehmern, Architekten und Stadtplanern – könnten konkrete, innovative Lösungen gefunden werden, die auf die Bedürfnisse der zukünftigen Benutzerinnen und Benutzer eingehen. Dadurch werden Menschen dazu angehalten, sich in ihrer Umwelt als Hauptakteure für ein gutes Leben einzusetzen, die Interaktion zwischen den Bewohnern zu fördern und für ihren Anliegen gemeinsam realistische und anregende Lösungen zu findet. Die in den letzten Jahren entstandenen Living Labs sind die Wegbereiter dieses Ansatzes.
Kontakt:
- Marion Droz Mendelzweig, Professorin, Fachhochschule La Source – Abteilung Lehre und Forschung, Alter und Gesundheit
- Maria Grazia Bedin, Professorin, Fachhochschule La Source – Abteilung Lehre und Forschung, Alter und Gesundheit
Projekte und Partner:
Literatur und weiterführende Links:
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