Armut kann nur verringert werden, wenn Sozialwesen und Wirtschaft zusammenarbeiten und gemeinsam visionäre Modelle entwickeln. Davon ist Pierre Alain Schnegg, bernischer Gesundheits- und Fürsorgedirektor, überzeugt. Für die Tagung Gesundheit und Armut 2018 wünscht sich der Regierungsrat denn auch offene und unvoreingenommene Diskussionen.
Herr Regierungsrat, Sie haben sich bereit erklärt, am 22. Juni 2018 an der 3. Nationalen Tagung Gesundheit und Armut mitzuwirken. Was interessiert Sie an der Thematik besonders?
Pierre Alain Schnegg: Ich interessiere mich sehr für die Frage, wie man in unserer Gesellschaft Rahmenbedingungen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung setzen kann, die uns erlaubt, Menschen aus der Armut zu bringen. Mit einer starken Wirtschaft kann man gute Jobs zur Verfügung stellen, Menschen können Einkommen generieren; eine Art Reichtum für unseren Kanton, der uns erlauben wird, die Armut zu reduzieren.
Dann müsste die Tagung aus Ihrer Sicht auch von Akteuren aus der Wirtschaft mitgetragen werden?
Ja. Es erstaunt mich, wie wenig wir zusammenarbeiten. Menschen können nur arbeiten, wenn es Arbeitsstellen gibt. Wir werden rein auf Ebene Sozialhilfe keine neuen Jobs generieren können. Daher ist es unerlässlich, dass das Sozialwesen und die Wirtschaft zusammenkommen, um Wege zu finden, die das Gesamtsystem verbessern können.

Pierre Alain Schnegg ist Ingenieur FH in Wirtschaftsinformatik, Unternehmer und seit 2016 Bernischer Regierungsrat (SVP) und Direktor der Gesundheits- und Fürsorgedirektion GEF. Die GEF gehört zur Trägerschaft der am 22. Juni 2018 stattfindenden Tagung Gesundheit und Armut des BFH-Zentrums Soziale Sicherheit.
Die neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik vom Mai 2017 zeigen, dass sieben Prozent der Bevölkerung in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen sind. Im Kanton Bern ist diese Quote sogar höher: Sie liegt bei zwölf Prozent. Macht der Kanton Bern etwas falsch?
Im Kanton Bern sind wir momentan nicht unbedingt wirtschaftsfreundlich. Daran müsste man arbeiten. Es muss sich lohnen, neue Firmen zu gründen, Arbeitsplätze zu schaffen – Arbeitsplätze, die einen Mehrwert und neuen Bedarf nach Arbeitsplätzen in anderen Bereichen generieren. Ich sage nicht, wir seien im Kanton Bern wirtschaftsfeindlich: Es gibt durchaus auch Gründe dafür, etwa die schwache Finanzkraft. Aber dennoch ist das für mich der Ansatzpunkt, an dem wir arbeiten müssen.
Im Kanton Bern wurden 2012 und 2015 die Sozialberichte zur «Bekämpfung der Armut» veröffentlicht. Im letzten Bericht gab es einen Abschnitt zur medizinischen Unterversorgung von Armutsbetroffenen. Als Grund für einen Verzicht auf Behandlung gaben Armutsbetroffene häufig finanzielle Gründe an. Sehen Sie als Gesundheits- und Fürsorgedirektor da Handlungsbedarf?
Ich bin der Ansicht, dass man zwischen dem Sozial- und Gesundheitswesen noch besser zusammenarbeiten könnte.
Wir arbeiten in Silos. Das stelle ich im Sozialwesen fest, im Gesundheitswesen und sogar in meiner Direktion. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Beobachtung. Es ist wichtig, diese Grenzen zu überwinden.
Wir müssen darauf hinarbeiten, dass verschiedene Anbieter sich besser koordinieren können.
Grundsätzlich haben wir in der Schweiz ein gutes Gesundheitssystem. Es gibt auf Ebene Kosten keine Gründe auf eine Behandlung zu verzichten. Wir haben die Krankenkassen, die Prämienverbilligungen, die Sozialdienste können einspringen. Finanziell wäre alles gedeckt. Vielleicht sind die Möglichkeiten jedoch nicht genügend bekannt. Oder es gibt andere Gründe, warum sich jemand nicht behandeln lässt: Ob es mit Armut verbunden ist oder mit anderen Faktoren, muss weiter analysiert werden.
Was würden Sie persönlich armutsbetroffenen Menschen in der Schweiz raten, damit sie gesund bleiben?
Ich glaube, man könnte Verschiedenes für die eigene Gesundheit machen, was im Übrigen auch mir selbst gut täte. Man kann schon auf sich aufpassen. Man kann sich bewegen, auf die Ernährung und den Lebensstil achten. Das liegt in der eigenen Verantwortung, egal ob jemand reich oder arm ist.
Kann man diese Eigenverantwortung im selben Masse von jemandem erwarten, der vom ersten Tag des Monats an durch Fragen der Existenzsicherung gestresst ist – und auch physiologische Auswirkungen davon spürt? Der nie weiss, wie das Geld bis zum Monatsende reichen soll?
Nein, man kann nicht dasselbe Ausmass an Eigenverantwortung erwarten. Von jemandem, der an einem Burn-out leidet, kann man nicht erwarten, dass er jeden Tag zehn Kilometer läuft. Für diese Person sind vielleicht zehn Treppenstufen schon viel. Auch hier sind die Situationen sehr individuell.
Man kann von allen erwarten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre vorhandenen Ressourcen zu nutzen, immer mit dem Ziel, dass diese Person irgendwann wieder selbst Verantwortung für sich übernehmen und wieder Fuss fassen kann.
Es wird immer Leute geben, die das nicht schaffen können und für diese Menschen müssen wir sicherlich langfristig neue Lösungen suchen. Wie diese aussehen könnten, weiss ich nicht.
Kommen wir auf die Teilrevision des Bernischen Sozialhilfegesetzes zu sprechen. Kann es nicht sein, dass durch die geplanten Kürzungen der Sozialhilfe eine Verlagerung der Kosten stattfindet? Dass durch die Einsparungen bei der Sozialhilfe die Kosten bei der Krankenversorgung steigen werden?
Der Grosse Rat des Kantons Bern hat uns beauftragt, einen Vorschlag zu erarbeiten – unter klaren Rahmenbedingungen. Wir müssen dabei die Situation im Kanton Bern berücksichtigen: Wir sind finanzschwach, haben eine hohe Steuerbelastung.
Viele Menschen im Kanton Bern sind mit einem tieferen Einkommen unterwegs als in anderen Kantonen. Warum sollte das Niveau bei der Sozialhilfe dennoch in allen Kantonen dasselbe sein? Ich glaube, diese Frage ist berechtigt.
Für mich ist es wichtig, ein System zu haben, das langfristig funktioniert. Denn irgendwann wird das heutige System nicht mehr bezahlbar sein. Wir haben auch geprüft, wie wir Anreize schaffen können, die Leute dazu motivieren, wieder selbständig zu werden. Nun haben wir einen Vorschlag erarbeitet, der – wie ich finde – in einem akzeptablen Rahmen bleibt. Nun werden wir sehen, wie der Grosse Rat oder das Volk entscheiden wird.
Was wäre für Sie das Ziel unserer gemeinsamen Tagung Gesundheit und Armut?
Für mich sind diese Tagungen wichtig, wenn Diskussionen offen und unvoreingenommen geführt werden können. Mir ist wichtig, dass verschiedene Meinungen gehört werden können. Wenn wir etwas verändern wollen, können wir das nur durch die Konfrontation von Meinungen und Ideen. Das meine ich durchaus positiv.
Dies ist eine gekürzte Version des im Magazin «impuls» unter demselben Titel erschienenen Interviews mit Regierungsrat Schnegg. Das Heft 3/2017 mit dem vollständigen Gespräch finden Sie auf der Webseite des Fachbereichs Soziale Arbeit.
Sämtliche Informationen zur 3. Nationalen Tagung «Gesundheit und Armut» vom 22. Juni 2018 und den Call for Papers finden Sie auf der Tagungswebseite.
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