Wie nachhaltig ist das Geschäft mit der Gesundheit?

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Arztpraxen und Gesundheitszentren sind zurzeit begehrte Investitionsobjekte. Das Wachstum der ambulanten Medizin könnte sich positiv auf die Patientinnen und Patienten sowie auf die Kosten auswirken, doch deutet vieles darauf hin, dass die Praxisbetreiber vor allem an fitten und unkomplizierten Kundinnen und Kunden interessiert sind. Damit treiben sie die Prämien ohne einen Zusatznutzen in die Höhe.

Seine Karriere startete er Anfang der 1990-er Jahre in den Umweltwissenschaften. Inzwischen, bereits etwas vom Alter gezeichnet, ist er auch im Gesundheitswesen angelangt: Der Begriff der Nachhaltigkeit. Trotz seines inflationären Gebrauchs bleibt er unverzichtbar, denn er erinnert uns daran, dass unsere Handlungen von heute Auswirkungen auf die Generationen von morgen haben. Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften SAMW veröffentlichte Ende 2012 ein Positionspapier unter dem Titel «Nachhaltige Medizin», das den überschätzten Nutzen medizinischer Interventionen, die übersteigerten Erwartungen, die Personalknappheit und die unsichere Finanzierung thematisierte.

Was geschieht mit den weniger «pflegeleichten» Patientinnen und Patienten?

Es stellt sich nun folgende Frage: Wie nachhaltig ist es, wenn Investoren in der Gesundheitsversorgung ein neues und lukratives Geschäftsfeld entdecken? Und damit verbundene Fragen lauten: Was bedeutet es für die zukünftigen Patientinnen und Patienten, wenn sich ein Markt für Gesundheitsdienstleistungen entwickelt, in welchem sich diejenigen Anbieter durchsetzen, die vor allem eine jüngere, fitte, gut situierte und gebildete Kundschaft ansprechen? Wer sorgt sich längerfristig um die älteren, gebrechlichen, komplexen, psychisch kranken und randständigen Menschen, wenn Leistungserbringende dazu angehalten sind, sich im Wettbewerb zu behaupten, Gewinne zu erzielen und den Shareholdern, zu denen auch viele Kantone gehören, Dividenden auszuschütten?

Gruppenpraxen als Investitionsobjekte

Es geht hier nicht um die noblen Privatkliniken und Seniorenresidenzen, in denen sich reiche Leute verwöhnen lassen. Diese gibt es schon lange, und sie führen eine eigene Existenz ausserhalb der Grundversorgung. Nein, es geht darum, dass sich private Investoren wie die Migros Dutzende von Grundversorgungspraxen kaufen, die sie zu schicken Sportkliniken umfunktionieren – passend zu ihren Fitnesszentren, Sportgeschäften, Nahrungsergänzungsmitteln und Volksläufen. Die Kundschaft der Arztpraxen bringt schöne Erträge, finanziert durch die Krankenkassen. Auch Spitäler, etwa die  Hirslanden-Gruppe, investieren zunehmend in ambulante Dienstleistungen. Öffentliche Spitäler wie das Kantonsspital Winterthur und das Spital Bülach betreiben neuerdings grosse Arztpraxen im Einkaufszentrum Glatt sowie im Flughafen Zürich.

Im Geschäft mit Gruppenpraxen und Gesundheitszentren herrscht Goldgräberstimmung. In den Medien kursierte Anfang Jahr die Zahl von über einer Milliarde Franken, die in den nächsten fünf Jahren in die ambulante Grundversorgung investiert werden solle. Die Expansion der Spitäler in Arztpraxen lässt sich weniger mit direkten Renditeerwartungen als vielmehr mit strategischen Zielen erklären: Es geht um den Zugriff auf Patientinnen und Patienten, die für die Spitäler wirtschaftlich interessant sein könnten. Die Spitäler möchten sicherstellen, dass ihnen Patientinnen und Patienten für stationäre Eingriffe oder Behandlungen zugewiesen werden. Sie haben zudem die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten frühzeitig nach ihrem Ertragspotenzial zu selektieren.

Rasch wachsende Krankenkassenprämien

Die Folgen für die Prämienzahlenden sind Jahr für Jahr deutlich zu spüren: Die Krankenkassenprämien steigen rasant. Während bei stationär durchgeführten Behandlungen die Kantone 55 Prozent zu den Kosten beitragen, zahlen die Krankenkassen ambulant den vollen Rechnungsbetrag. Ambulante Behandlungen sind so, obwohl insgesamt günstiger, zum grössten Kostentreiber in der obligatorischen Grundversicherung geworden. Sie stiegen zwischen 2011 und 2015 um fast ein Viertel, nämlich um rund vier Milliarden Franken. In derselben Zeitspanne nahmen die Beiträge der Krankenkassen an den stationären Bereich nur um 15 Prozent zu, was etwas mehr als einer Milliarde Franken entspricht. Die Expansion der gewinnorientierten ambulanten Medizin schlägt sich direkt in den Krankenkassenprämien nieder.

Quelle: BAG Statistik der obligatorischen Krankenversicherung

Quelle: BAG Statistik der obligatorischen Krankenversicherung

Nachhaltig ist das nicht. Nachhaltig wäre eine gute ambulante Grundversorgung für die ganze Bevölkerung mit einem Finanzierungsmodell, das eine vernünftige und patientenorientierte Medizin über die ganze Versorgungskette hinweg fördert. Konkret heisst das, dass die Kostenaufteilung zwischen Kanton und Krankenkasse die gleiche sein muss, unabhängig davon, ob jemand ambulant oder im Spital behandelt wird. Neue Studien zeigen, dass für die Krankenkassen so Anreize geschaffen werden, koordinierte Versorgungsmodelle in der ambulanten Medizin zu stärken. Damit sind Einsparungen in Milliardenhöhe möglich, von denen auch die Krankenkassen und ihre Versicherten profitieren.

Zurzeit wird die Reform der Gesundheitsfinanzierung zum wiederholten Mal in einer Spezialkommission des Parlaments behandelt. Dabei besteht die grosse Herausforderung darin, die Kantone für eine finanzielle Beteiligung an den ambulanten Leistungen zu gewinnen. Als «Gegenleistung» könnte den Kantonen eine Planungskompetenz zugestanden werden. Denkbar wäre beispielsweise, dass sie die Möglichkeit erhalten, über Zulassungskriterien oder Taxpunktwerte die Eröffnung von ambulanten Gruppenpraxen zu steuern und so die Grundversorgung in tendenziell unterversorgten ländlichen Regionen zu fördern.

 


Anna Sax referierte am 16. November 2016  an der Veranstaltung «FollowUs – Schlaglichter auf die Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen» des Fachbereichs Gesundheit der Berner Fachhochschule BFH. Dieser Beitrag ist ein verschriftlicher Auszug des Vortrags.

 

 

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