Wer wagt es nach Hilfe zu fragen?

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Seit der Jahrtausendwende ist der öffentliche Diskurs zur Sozialhilfe durch Misstrauen geprägt. Aufgrund von Administrativdaten kann nun nicht nur berechnet werden, dass ein Viertel der Bezugsberechtigten auf die Sozialhilfe verzichtet, sondern auch, dass dies mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen zusammenhängt. Dies verschärft die Armutsproblematik in der Schweiz unnötig.

Der Grundsatz ist einfach: Wer in einem modernen Wohlfahrtsstaaten unter das Existenzminimum fällt, wird durch die Sozialhilfe unterstützt und ist so vor Armut geschützt. Jedoch wird von diesem Recht nicht immer Gebrauch gemacht. Die Schätzungen über den Anteil von Personen, welche die Sozialhilfe nicht in Anspruch nehmen, sind unterschiedlich. Die pessimistischsten rechnen jedoch mit einer Nichtbezugsquote von 60%.

Offiziellen Zahlen gibt es aufgrund fehlender Datenlage keine. Mit einem Simulationsmodell kann jedoch der Anspruch für alle Berner Haushalte abgeschätzt werden, indem der Grundbedarf für Lebensunterhalt, medizinische Grundversorgung und Wohnkosten neben die Steuerdaten zu Einkommen und Vermögen gestellt werden. Die so ermittelte Zahl von Anspruchsberechtigten kann darauf mit der Sozialhilfestatistik des Bundes verglichen werden.

Ein Viertel der Berechtigten beantragt keine Sozialhilfe

Mit diesen Berechnungen kann aufgezeigt werden, dass jede vierte Person, die im Kanton Bern Anspruch auf Sozialhilfe hätte, diese nicht bezieht. Die Nichtbezugsquote ist im Kanton Bern somit tiefer als befürchtet, ein Ruhmesblatt ist diese Quote jedoch nicht. Dabei stehen verschiedene Ursachen im Raum, weshalb jemand die ihm zustehende Sozialhilfe nicht in Anspruch nimmt:

  • Mangelnde Information: Wer nicht weiss, dass er Anspruch auf Unterstützung hat, kann diese auch nicht einfordern.
  • Komplexe Verfahren: Ein umfangreiches oder unübersichtliches Antragsverfahren kann dazu führen, dass Anspruchsberechtigte aus Überforderung von einem Antrag absehen.
  • Soziale Kosten: Wer befürchtet, dass er durch den Bezug von Sozialhilfe sozial geächtet und isoliert wird, wird eher darauf verzichten.
  • Finanzieller Nutzen: Wenn die zu erwartende Höhe und Dauer der Unterstützung gering ist, kann dies zur Folge haben, dass auf diese verzichtet wird.

Betrachtet man jedoch die Zahlen im Kanton Bern, fallen die erheblichen regionalen Unterschiede auf: Die Nichtbezugsquote ist in den Städten mit 12% deutlich tiefer als in Agglomerationen (28%) oder in ländlichen Gemeinden (50%). Dieser Unterschied kann teilweise damit erklärt werden, dass Haushalte in landwirtschaftlichen Gebieten bessere Möglichkeiten haben, eine Notlage durch Selbstversorgung zu überbrücken.

Grafik: Nichtbezugsquote in Städten und Gemeinden gemäss ihrer politischen Lage auf der Links/Rechts-Skala | Die dargestellten Quoten entstammen aus modellhaften Schätzungen, weshalb die Werte der einzelnen Ortschaften nicht angegeben werden

 

Jedoch gibt es einen weit gewichtigeren Einfluss, der unabhängig von Wirtschaftsstruktur und Bevölkerungsdichte bestehen bleibt: die sozialen Kosten, die auf den Land höher sind. Und dies hat nicht nur mit der Anonymität der Städte zu tun, die vielen den Gang zum Sozialamt erleichtern dürfte.

Nichtbezugsquote in konservativen Gemeinden deutlich höher

In Gemeinden mit starken linken Parteien, die sich entschieden für eine starke Sozialhilfe aussprechen, ist die Nichtbezugsquote tiefer, während Gemeinden mit rechts-konservativen Politik-Präferenzen deutlich höhere Quoten aufweisen. Da davon auszugehen ist, dass die Parteienstärke Ausdruck eines gesellschaftlichen Klimas sind, dürfte der Bezug von Sozialhilfe auf dem konservativen Land mit einem Stigma verbunden sein, das viele davon abhält Sozialhilfe zu beanspruchen – sei dies aus Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung oder aus eigener Überzeugung.

Verzicht kann zu Folgeproblemen führen

Dass viele Menschen ihren Anspruch auf Sozialhilfe nicht wahrnehmen, ist weder eine private Angelegenheit noch ein reines Gerechtigkeitsproblem. Denn die Betroffenen verzichten dadurch nicht nur auf finanzielle Unterstützung sondern auch auf professionelle Beratung, wie sie ihre Situation verbessern könnten. Dies kann zu weiteren Problemen und gesellschaftlichen Folgekosten führen, beispielsweise zu stressbedingten Beschwerden oder aufwendigen Schuldensanierungen. Im schlimmsten Fall wird die Armut vererbt und das Problem an die nächste Generation übergeben.

 


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