Personen mit Migrations- und Fluchthintergrund sind auf niederschwellige Angebote zum Thema Psychische Gesundheit angewiesen. Diese sind in der Schweiz jedoch rar. Das seit 1994 bestehende Programm «Femmes-Tische und Männer-Tische» hat hier eine Vorreiterrolle inne und bietet in über 20 Sprachen Gesprächsrunden an.
Psychische Gesundheit ist nicht erst seit der Covid-Pandemie ein gesellschaftsrelevantes Thema. Durch die Schutzmassnahmen sind Menschen mit psychischen Vorerkrankungen, tiefem sozioökonomischen Status, sozialer Isolation und Migrations- oder Fluchthintergrund jedoch verstärkt von Belastungen betroffen. Daher empfiehlt ein BAG-Forschungsbericht niederschwellige Beratungs- und Informationsangebote zu fördern und auszubauen. Sie sind bei der Früherkennung und -intervention psychischer Erkrankungen von zentraler Bedeutung – gerade bei Personen ohne ausreichende Sprachkenntnisse.
Hier setzt das Programm «Femmes-Tische und Männer-Tische» an, das mittels mehrsprachigen, themenorientierten Gesprächsrunden informelle Bildung in den Bereichen Gesundheit, Familie und Integration anbietet. Das in der Deutschschweiz und in der Romandie angebotene Programm richtet sich primär an Menschen mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund und basiert auf folgenden wirkungsrelevanten Ansätzen und Erfolgsfaktoren:
- Peer-Ansatz: Einsatz und Schulung von Moderierenden mit gleicher Herkunftssprache und ähnlichen Erfahrungen wie die Teilnehmenden
- Partizipativer Ansatz: Teilnehmende bestimmen Themen, die für sie hohe Relevanz haben
- Gender-Ansatz: Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht und des spezifischen Rollenverständnisses von Männern und Frauen
- Niederschwelligkeit: kostenlose und freiwillige Teilnahme, Bildung kleiner Gruppen, Angebote für die Kinderbetreuung
- Vernetzung: Die Programm-Standorte stehen mit anderen Organisationen und Institutionen in der jeweiligen Region im Austausch und gewinnen über sie Teilnehmende und Moderierende
Im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz evaluierte ein BFH-Forschungsteam das Programm «Femmes-Tische und Männer-Tische». Dabei war die «Psychische Gesundheit» eines von drei Gesprächsthemen, die im Rahmen der Studie untersucht wurden. Mittels zeitlich gestaffelten Gruppeninterviews wurde erkundet, welche Veränderungen die Teilnehmenden in Bezug auf Wissen, Einstellungen und Verhalten selbst wahrgenommen haben. Dabei stiessen die Forschenden auf drei zentrale Befunde, welche unterstreichen, wie wichtig niederschwellige Bildungsprogramme für vulnerable, sozial isolierte Personen mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund sind.
Wissenszuwachs
Alle befragten Teilnehmenden konnten gemäss eigener Einschätzung neue und alltagsrelevante Erkenntnisse gewinnen oder vorhandenes Wissen auffrischen.
«Das Thema war für mich nicht neu. Ich habe mich immer wieder damit beschäftigt, aber mit dieser letzten Sitzung ist es mir wieder bewusster geworden, dass es wirklich etwas Wichtiges ist.» Teilnehmerin A
Der Austausch mit Personen gleicher Herkunft und Sprache und mit ähnlichen Erfahrungen beurteilten alle Befragten als sehr positiv.
«Ein Treffen hier kann dazu führen, dass man, wenn man an einem ‹dunklen Ort› ist, wieder Licht sieht. An solchen Runden nehmen Leute teil, die selbst Ahnung und Erfahrung mit solchen Themen haben. Es ist nicht so, wie wenn man zu einer Therapiestunde geht, wo man nur theoretisch über die Dinge hört und spricht. […] In der Runde ist man mit Menschen zusammen, die eine Ahnung haben, wovon sie erzählen. So habe ich es erlebt.» Teilnehmerin B
Die Teilnehmenden wurden sich während der Gesprächsrunde bewusst, wie wichtig das Thema «Psychische Gesundheit» für sie, ihre Familie und für ihre gesellschaftliche Integration ist. Sie erkennen ihre eigene Verantwortung und die Handlungsmöglichkeiten, die ihnen trotz vieler struktureller Einschränkungen offenstehen.
«Ich nehme diesen Tag, an dem ich die Moderatorin kennengelernt habe, als einen Glückstag wahr, weil er dazu geführt hat, dass ich aus meiner Einsamkeit rauskomme und dass ich mich wieder aktiv in die Gesellschaft einbringe.» Teilnehmerin B
Die Gesprächsrunde gilt bei den Teilnehmenden zudem als Schlüssel, um aus der sozialen Isolation auszubrechen, und ermöglicht ihnen einen Perspektivenwechsel.
«Jede denkt, meine Schwierigkeiten sind die grössten, aber wenn man dann zusammen in einer Gruppe ist, dann wird es einem bewusst: ‹Ach, nein, meine Probleme sind nicht so gross›. Und man beginnt, das realistischer anzuschauen.» Teilnehmerin C
Positivere Einstellungen und gestärkte Motivation
Nach der Gesprächsrunde konnte bei den Teilnehmenden positivere Einstellungen und eine gestärkte Motivation hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit festgestellt werden. Sie wollten neue Ideen umsetzen und gaben ihr Wissen und ihre positivere Einstellungen an ihr privates Umfeld weiter.
«Ich bin sehr motiviert, ein besseres Leben zu führen und zu erreichen, damit es meinen Kindern und meinem Mann besser geht. Mir geht es nach dieser Gesprächsrunde ‹viel, viel besser›. Ich bin aufgestellter als vorher und mit dieser Energie macht es mir auch Spass, nach Hause zu gehen. Wenn meine Leute sehen, dass es mir gut geht, dann geht es ihnen auch gut.» Teilnehmerin A
Die Teilnehmenden drückten ausserdem wiederholt grosse Dankbarkeit dafür aus, dass sie an der Gesprächsrunde teilnehmen konnten und dass ihnen in ihrer Herkunftssprache Informationen vermittelt und die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch geboten wurde.
«Solche Sitzungen sind sehr wichtig für uns Flüchtlinge, weil man muss alles hinter sich lassen, die Heimat, die Familie, und und und. Man ist allein, auch wenn man mit der Familie ist. Und deshalb, wenn wir hierherkommen, gibt es uns Kraft und Wärme in unserem Herzen. […] Dass man zusammen diskutiert – oder auch mit den Gefühlen, das Psychische, das Teilen – das hilft uns einfach.» Teilnehmerin B
Veränderungen im Alltag und im Verhalten
Alle Teilnehmenden formulierten dank der Gesprächsrunde konkrete Vorsätze, wie sie ihre psychische Gesundheit fördern möchten, und begannen danach diese mit viel Motivation umzusetzen.
«Ich habe meinen Vorsatz, mehr Schweizerinnen und Schweizer kennenzulernen, um die Sprache besser zu lernen, noch nicht umgesetzt. Dass will ich aber jetzt tun und das gibt mir Energie und Freude.» Teilnehmerin A
Dabei ist festzuhalten, dass es häufig Zeit braucht, um Gewohnheiten oder Verhaltensweisen nachhaltig ändern zu können. Umso wichtiger ist es, dass Programme, die eine solche Veränderung unterstützen, gefördert und ausgebaut werden.
Kontakt:
- Prof. Dr. Emanuela Chiapparini, Dozentin, Departement Soziale Arbeit
- Claudia Schuwey, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Departement Soziale Arbeit
- Prof. Dr. Rahel Müller de Menezes, Dozentin, Departement Soziale Arbeit
Artikel und Berichte:
- Schuwey, Claudia; Müller, Rahel; Chiapparini, Emanuela (2021): Evaluation des Programms Femmes-Tische und Männer-Tische 2019-2020. Untersuchung mit Fokus auf die Themen Psychische Gesundheit, Gesunde Ernährung und Corona-Pandemie. Bern: Berner Fachhochschule. (Erhältlich auf Anfrage bei Gesundheitsförderung Schweiz)
- Gesundheitsförderung Schweiz (2021): Evaluation «Femmes-Tische und Männer-Tische» – Mehrsprachige, informelle Bildung für Menschen in allen Lebenslagen, Faktenblatt 62. (auch in Französisch und Italienisch verfügbar)
Projekte und Partner:
Literatur und weiterführende Links:
- Beywl Wolfgang, Niestroj Melanie (2019). Das ABC der wirkungsorientierten Evaluation. Glossar-Deutsch Englisch der wirkungsorientierten Evaluation.
- Gesundheitsförderung Schweiz (2019). Wirkungsevaluation von Interventionen. Leitfaden für Projekte im Bereich Bewegung, Ernährung und psychische Gesundheit Arbeitspapier 46.
- Müller, Rahel; Chiapparini, Emanuela (2021): «Wenn ihr mich fragt…». Das Wissen und die Erfahrung von Betroffenen einbeziehen. Grundlagen und Schritte für die Beteiligung von betroffenen Personen in der Armutsprävention und -bekämpfung. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), Nationale Plattform gegen Armut. (auch in Französisch und Italienisch verfügbar)
- Stocker, Désirée; Schläpfer, Dawa; Németh, Philipp; Jäggi, Jolanda; Liechti, Lena; Künzi, Kilian (2021): Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz. Bern: Bundesamts für Gesundheit.
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