Zehn Prozent der Berner Bevölkerung leben von einem Einkommen knapp über der Armutsgrenze. Die Analyse von Steuerdaten zeigt, dass gerade Familien und Alleinerziehende besonders betroffen sind. Um die Chancen armutsbetroffener Kinder zu verbessern, müsste die Schweiz entschieden in die vergleichsweise schwache Soziale Sicherung von Familien investieren.
Die Inflation ist in der Schweiz angekommen. Die steigenden Preise bei Gütern des täglichen Bedarfs sind besonders für Menschen mit wenig Einkommen spürbar, da sie einen vergleichsweise grossen Teil ihres Einkommens für lebensnotwendige Ausgaben aufwenden müssen. Im Auftrag von Caritas Schweiz untersuchte die Berner Fachhochschule, wie viele Haushalte mit knappen finanziellen Mitteln nahe der Armutsgrenze leben und welche Haushaltsformen besonders betroffen sind.
Wann gilt man in der Schweiz als arm?
In der Schweiz gilt als arm, wem die Mittel für einen minimalen Lebensstandard fehlen. Ausgehend von den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe zur Bemessung des Anrechts auf Sozialhilfe, umfasst dies bei einem Einpersonenhaushalt ein Jahreseinkommen von rund 26’400 CHF. Bei einer Zweielternfamilie mit zwei Kindern sind es 48’000 CHF. Mit diesem Betrag müssen die täglichen Auslagen bezahlt werden, die Wohnkosten und die Krankenkassenprämien. Um festzustellen, welche Haushalte nur knapp oberhalb der Armutsgrenze leben, haben wir anhand von Steuerdaten des Kantons Berns berechnet, wie viele Menschen in finanziell schwierigen Lebenslagen leben. Dazu haben wir die Schwelle des Existenzbedarfs schrittweise erhöht. Einmal um 100 CHF und einmal um 500 CHF pro Monat und Haushaltsmitglied. Schliesslich betrachteten wir, welche Haushalte weniger Einkommen gemäss dem höher angesetzten Existenzminimum der Ergänzungsleistungen zu AHV und IV haben.
Jede zehnte Person lebt mit Mitteln knapp oberhalb der Armutsgrenze
Im Kanton Bern erhalten 7.7 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Diese Quote steigt durch die schrittweise Erhöhung des Existenzbedarfs um ein weiteres Prozent bei der Erhöhung um 100 Franken und um weitere 5.6 Prozentpunkte bei einer Erhöhung um 500 Franken. In einer schwierigen finanziellen Lage – mit einem Einkommen zwischen den Bedarfsgrenzen der Sozialhilfe und der Ergänzungsleistungen – leben schliesslich 10.6 Prozent der Bevölkerung. Insgesamt sind 18.3 Prozent entweder direkt von Armut betroffen oder sie leben knapp oberhalb der Armutsgrenze.
Armutsrisiko nach Haushaltsformen
Viele Familien leben mit knappen finanziellen Mitteln
Davon sind jedoch nicht alle Haushaltstypen in gleichem Ausmass betroffen. Steuert nur eine Person ein Einkommen zur Deckung des Haushaltsbedarfes bei, erhöht dies das Armutsrisiko. Alleinlebende Personen und besonders alleinlebende Eltern sind unterhalb der Armutsschwelle stark vertreten. 13.6 Prozent der Einpersonenhaushalte und 18 Prozent der Einelternhaushalte leben im Kanton Bern in Armut.
Auch bei Haushalten in schwierigen finanziellen Lagen ist eine Asymmetrie der Haushaltsformen erkennbar. Während nur gerade 3.5 Prozent der Paare ohne Kinder knapp oberhalb der Armutsgrenze lebt, sind es bei den Paaren mit Kindern 14.1 Prozent. Wie aus der Grafik ersichtlich, dreht sich das Verhältnis bei den reichen Haushalten. Hier überwiegen die Paarhaushalte ohne Kinder deutlich. Viele davon sind ältere Paare, deren Kinder bereits aus dem gemeinsamen Haushalt ausgezogen sind.
Armut oder das Risiko der Armut ist bei Haushalten mit Kindern grösser. Kinder erhöhen die Ausgaben eines Haushaltes, ohne selbst ein Einkommen beizutragen. Und Elternschaft schränkt die Erwerbsbeteiligung ein, da zusätzliche Betreuungs- und Haushaltsarbeit anfällt. Zudem sind die Einkommen von der Lebensphase abhängig. Die Zeit der Elternschaft fällt in der Regel in eine frühe Phase des Erwerbslebens, in welcher die Einkommen noch tiefer sind. Über den Lebensverlauf steigen diese stetig an. Im Schnitt verdient man in der Schweiz in den letzten Jahren der Erwerbstätigkeit am meisten. Oft sind die Kinder in dieser Lebensphase bereits selbstständig.
Nachholbedarf bei der Sozialen Sicherung von Familien
Beinahe jede fünfte Person in der Erwerbsbevölkerung lebt mit Einkünften unterhalb oder unmittelbar oberhalb der Armutsgrenze. Ihre Einkommen müssen gestützt werden, wie Caritas Schweiz in ihrem kürzlich veröffentlichten Positionspapier formuliert. Familien sind bei den Haushalten mit knappen finanziellen Mitteln besonders betroffen. Das ist bedenklich, denn Armutserfahrungen in der Kindheit sind für das zukünftige Leben prägend und beschränken die Entwicklungs- und Bildungschancen der Kinder. Im europäischen Vergleich gibt die Schweiz für die Soziale Sicherung von Familien und Kindern deutlich weniger aus. Für eine Angleichung auf das europäische Niveau müsste die Schweiz rund 5 Milliarden Franken mehr investieren. Ausgehend von den 10,5 Milliarden des aktuellen Budgets ist dies eine beträchtliche Summe. Besonders wirksam wären Ergänzungsleistungen für Familien. Diese spezifische Leistung ermöglichen heute aber lediglich vier Kantone. Hier besteht in der Schweiz Nachholbedarf.
Kontakt:
- Prof. Dr. Oliver Hümbelin, Dozent, Institut Soziale Sichersicherheit und Sozialpolitik
- Olivier Lehmann, Studentischer Mitarbeiter, Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik
Artikel und Berichte:
- Hümbelin, Oliver, Lehmann, Olivier (2022): Schätzung der Zahl der Menschen in finanziell schwierigen Lebenslagen knapp oberhalb der Armutsgrenze; Berner Fachhochschule
- Hümbelin, Oliver; Fluder, Robert (2022): Wenig Unterstützung für Familien: Es besteht erheblicher Nachholbedarf; In: ZESO 2/22
- Hümbelin, Oliver (2020): Arm oder nicht arm? Neue Zahlen zur Altersarmut unter Verwendung neuerer Daten und Ansätze; SVSP-Jahrestagung, 28. Oktober 2020
- Fluder, Robert; Hümbelin, Oliver; Luchsinger, Larissa; Richard, Tina (2020): Ein Armutsmonitoring für die Schweiz: Modellvorhaben am Beispiel des Kantons Bern; Berner Fachhochschule
Partner und Projekte:
Literatur und weiterführende Links:
- Caritas Schweiz (2022): Wenn das Geld kaum zum Leben reicht
- Bundesamt für Statistik (2022): Armut
- Bundesamt für Statistik (2022): Landesindex der Konsumentenpreise
- Karjalainen, Heidi; Levell, Peter (2022): Inflation for poorest households likely to increase even faster than for the richest, and could hit 14% in October; Institute for Fiscal Studies, Press Release from 25.5.2022
1 Kommentare
Ulrich Brandenberger
Was heisst da «knapp über der Armutsgrenze»? Das sind diese Leute a) weil sie keinen Zugang zu einer Subsistenzwirtschaft haben, die ihre eigenen Lebensmittel etc. produziert, b) weil der Staat und von ihm privilegierte Gruppen (wie SRF und Co.) sich über einkommensunabhängige Abgaben (MWST etc.) und Kopfsteuern (Serafe) auch von den Ärmsten aushalten lassen und c) weil man exorbitante Krankenkrassenprämien bezahlen muss.
Für letztere gibt es keine Prämienverbilligung, wenn auf dem Papier nicht genügend Geld da ist um auf das SKOS-Minimum zu kommen. Und daher ja angeblich irgendjemand offensichtlich unterstützen muss. Dass man dies subsistenzmässig auch selber könnte, darauf kommen die Beamten natürlich nicht. Weil 100% von Steuern lebend. Was glauben die, wie Menschen in der Dritten Welt von 1 $ pro Tag und weniger leben? Eben.