Wenn Angehörige Pflege brauchen

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Ob durch einen Unfall plötzlich alles anders ist oder ob sich die Situation schleichend einstellt: Wenn ein Familienmitglied dauerhaft Betreuung und Pflege braucht, stellt dies Angehörige vor eine schwierige Aufgabe. An einer Veranstaltung der Berner Fachhochschule BFH beleuchteten Expertinnen und Betroffene die Situation pflegender Angehöriger in der Schweiz.

Eine Hirnverletzung bringe eine einschneidende Veränderung, von einem Augenblick auf den anderen. Nichts sei so wie zuvor. Ruhig blickt Barbara Kestenholz ins Publikum. Im Gespräch mit Silvia Luginbühl, der ehemaligen Leiterin von FRAGILE Bern, erzählt sie von ihrer für manche unvorstellbaren Situation. Vor über zehn Jahren führte bei ihrem Ehepartner ein Hornissenstich zu einem Herzkreislaufstillstand und dadurch zu einer Hirnverletzung. Ihr Mann wurde von einem vielseitig begabten und engagierten Lehrer zu einer pflegebedürftigen Person, die nur dank vieler Therapien eine gewisse Selbständigkeit zurückerlangte und nun wieder gehen und sprechen kann. Neben der Pflege ihres Mannes kümmert sich Barbara Kestenholz – Leiterin einer Selbsthilfegruppe, Lehrerin und Mutter von drei erwachsenen Kindern – zudem um ihre invalide Schwester und um ihre an Demenz erkrankte Mutter.

Individuelle und gesellschaftliche Herausforderungen

Die Pflege übernehme man, ohne zu überlegen, erklärt Barbara Kestenholz. Sie habe die ersten anderthalb Jahre einfach funktioniert, organisiert, gepflegt, betreut und daneben zu 75 Prozent gearbeitet und zu ihren Kindern geschaut. Erst kurz vor der Totalerschöpfung tauchten die grundlegenden Fragen auf. Ob und wie sie diesen Aufwand weiterhin leisten könne und wolle. Wo sie sich Unterstützung holen könne und was sie brauche, um gesund zu bleiben. Sie suchte therapeutische Hilfe und Beratungen auf und konnte die Fragen schrittweise klären, bis sie eines Tages bewusst zu ihrem jetzigen Mann ja sagen konnte. In der von ihr moderierten Selbsthilfegruppe machten fast alle diesen Prozess durch, müssten ihre Grenzen zuerst erleben.

Viele Menschen werden laut Elsmarie Stricker, Leiterin Bildung am Institut Alter der BFH, in ihrem Leben dreimal mit dem Thema Angehörigenpflege konfrontiert: bei den Grosseltern, den Eltern und dann bei eigener Pflegebedürftigkeit. Gerade die mittlere Generation befindet sich meist in einer anspruchsvollen Phase, in der Kindererziehung und die Pflege der Eltern zusammenfallen. In den kommenden Jahren werde im Alterssegment der über 80-Jährigen ein deutlicher Zuwachs erwartet, womit trotz der insgesamt verbesserten gesundheitlichen Situation älterer Menschen mit einer steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen zu rechnen ist. Über alle Alterssegmente hinweg kämen Behinderungen, chronische und psychische Erkrankungen hinzu, die in jedem Lebensalter eintreten und ebenfalls zu Pflegebedürftigkeit führen könnten.

Sorgende Gemeinschaften und Selbsthilfegruppen

Es bestehe die Gefahr, dass der Pflege- und Betreuungsaufwand zu gross werde und die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege nicht mehr gegeben sei. Deshalb brauche es auf der gesellschaftlichen Ebene eine höhere Sensibilität und zusätzliche Anstrengungen. Dabei preist Elsmarie Stricker Sorgende Gemeinschaften als vielversprechenden Weg an: Die Sorge für verletzliche Menschen bleibt nicht allein den Familien überlassen, sondern liegt auch in der Mitverantwortung von Nachbarschaft, Vereinen, Quartieren und Gemeinden, die ihren Möglichkeiten entsprechend Sorge-Aufgaben mittragen.

In der Selbsthilfegruppe von Barbara Kestenholz geben die meisten Mitglieder an, dass sie nicht die eigentliche Pflege belaste, sondern das ganze Drumherum. Das Gefühl für alles alleine verantwortlich zu sein, wenn man Organisatorisches oder Finanzielles regele und sich immer wieder mit Behörden und Versicherungen auseinandersetzen müsse. Der sorgsame Austausch in der Gruppe tue gerade in diesem Bereich gut und stärke einen selbst.

Strategien für Unternehmen

Von einem institutionalisierten Umgang mit den Bedürfnissen von berufstätigen betreuenden Angehörigen ist die Arbeitswelt noch weit entfernt. Bei einer Umfrage in einem Schweizer Grossunternehmen hätten jedoch über die Hälfte der Befragten angeben, in Vergangenheit, Gegenwart oder voraussehbarer Zukunft von Pflegeaufgaben betroffen zu sein. Die durchschnittliche Beanspruchung lag dabei bei monatlich 20 Stunden und zieht sich über eine mittlere Zeitspanne von 24 Monaten.

Wenn betriebsinterne Strategien, Regelungen oder Anlaufstellen für diese Fragen fehlen, kommt Regula Buri ins Spiel, die sich als Beraterin bei profawo Bern um die Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenbetreuung kümmert. Laut ihr gehören flexible Arbeitszeiten, Home Office oder Arbeitszeitreduktion zu den wichtigsten Massnahmen, mit denen Unternehmen ihre Mitarbeiter entlasten können. Zudem brauche es Sensibilisierung im Betrieb, Informationsmaterial sowie interne oder externe Beratung und Begleitung. Entscheidend sei dabei eine Unternehmensstrategie, welche die Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung explizit enthalte und von den Vorgesetzten aktiv gelebt werde. Arbeitnehmenden empfiehlt Regula Buri das Gespräch mit Vorgesetzten, dem Team und anderen Betroffenen im Betrieb zu suchen. Meist gelinge es so, passende Lösungen zu finden und die Ressourcen im Team unterstützend zu verteilen.

Sich abgrenzen und Ressourcen aufteilen

Ein Rat, der in angepasster  Form auch im Privaten gilt. Die eigenen Kräfte einzuteilen, Hilfe einzufordern und anzunehmen, sind laut Silvia Luginbühl entscheidende Schritte, um als pflegender Angehöriger nicht selbst eines Tages krank zu werden. Dies sei kein Luxus, sondern oberste Pflicht. Dazu gehört auch der schwierige Prozess der Abgrenzung, der in Barbara Kestenholz Selbsthilfegruppe immer wieder zum Thema wird. Man müsse lernen, nein zu sagen und sich ohne Schuldgefühle gewisse Freiheiten zu erlauben. Etwas, was den Männern vielfach besser gelinge, die Pflegeaufgaben eher delegieren könnten. Frauen hingegen akzeptierten Hilfe von aussen schwerer und tendierten dazu, alles selbst erledigen zu wollen. Da müsse sogar sie, als Moderatorin einer Selbsthilfegruppe, sich hin und wieder an der eigenen Nase nehmen.

 


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