In den letzten zehn Jahren wurde die gesundheitliche Verantwortung zunehmend dem Individuum zugeschrieben. Doch hat der*die Einzelne die eigene Gesundheit tatsächlich selbst in der Hand? Eine Studie zur Gesundheitskompetenz junger Menschen zeigt, dass auch der soziale Kontext nicht vergessen werden darf.
Mit neuen Infektionskrankheiten und steigenden Kosten in der Krankenversorgung steigen auch die Erwartungen an Bürger*innen, Verantwortung zu übernehmen und gesundheitsbewusst zu handeln. Das Konzept der Gesundheitskompetenz scheint hier ein vielversprechender Ansatz, gesunde Verhaltensweisen zu fördern. Ein verbreiteter Ansatz definiert Gesundheitskompetenz als die Fähigkeit, Informationen zur Prävention und Bewältigung von Krankheiten sowie zur Gesundheitsförderung zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden.
Diese Definition von Gesundheitskompetenz markiert – ohne es beabsichtigt zu haben – einen Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Diskurs. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Gesundheitskompetenz als das Ergebnis von eigenen Fähigkeiten einerseits und der Komplexität des Gesundheitswesens andererseits verstanden. In der neuen Definition bleibt dieser zweite Aspekt der Umwelt- und Kontextabhängigkeit aussen vor; die Gesundheitskompetenz wird vermehrt als Ursache und Basis einer guten Gesundheit verstanden.
Dieser Paradigmenwechsel erhöht die Gefahr, dass gute Gesundheit verstärkt individualisiert wird. Umwelt- und Kontextfaktoren wie beispielsweise die Informationsflut, alltägliche Belastungen oder der Zugang zu Bildung sind äussere Rahmenbedingungen, welche die Auseinandersetzung mit Gesundheitsinformationen erschweren können und damit auf die Gesundheitskompetenz einwirken.
Ein Faktor mit wenig Erklärungspotenzial
Die wenig thematisierten Kontextbedingungen von Gesundheitskompetenz motivierten mich, den Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz und Gesundheit in einer Dissertationsarbeit zu erforschen. Bietet die Gesundheitskompetenz als Personenmerkmal eine kausale Erklärung von Gesundheitsindikatoren oder ist sie vielmehr ein Produkt psychosozialer und sozioökonomischer Faktoren?
Für die Beantwortung der Fragestellung wurden die Daten des Young Adult Survey Switzerland verwendet, die alle vier Jahre während der Rekrutierung diensttauglicher junger Männer und Frauen erhoben werden. Dabei werden Fragen zu Ausbildung und Beruf, Familie, Politik und zivile Verantwortung, Gesundheit und Sport gestellt. Insgesamt standen Daten von über 30’000 Personen zur Verfügung.
Die Ergebnisse zeigen, dass Gesundheitskompetenz von unterschiedlichen sozialen und persönlichen Kontextfaktoren abhängig ist: beispielsweise Schulbildung, finanzielle Sicherheit, Sozialstatus der Eltern, Fähigkeit zur Selbstregulation und Gewissenhaftigkeit. Diese Faktoren sind für die Erklärung von Gesundheit wesentlich bedeutender als die Gesundheitskompetenz selbst. Die statistischen Modelle zur Erklärung der selbstbewerteten Gesundheit, von Rauchen und Übergewicht konnten durch den Einschluss der Gesundheitskompetenz nicht signifikant verbessert werden. Zur Erklärung der psychischen Gesundheit konnte sie die Aussagekraft des Modells ein wenig verbessern.
Den Kontext stärker in den Fokus rücken
Die Analysen zeigen, dass der Zusammenhang von Gesundheitskompetenz und Gesundheit sehr komplex ist und es verfrüht wäre, Gesundheitskompetenz als Determinante von Gesundheit zu bezeichnen. Eine neuere Studie im Auftrag der Allianz Gesundheitskompetenz untermauert die Bedeutung schwer veränderbarer Kontextfaktoren. Diese Barrieren können den Weg zu einer guten Gesundheit selbst dann versperren, wenn die Motivation und die Kompetenzen dafür vorhanden wären: beispielsweise finanzielle Sorgen, ein herausfordernder Familienalltag, psychische Belastungen oder geringe Unterstützungen durch Behörden und Fachstellen.
Für die zukünftige Forschung wird es entscheidend sein, wie diese äusseren Faktoren in das Konzept der Gesundheitskompetenz (re-)integriert werden und das notwendige Gewicht erhalten. Ein erneuter Paradigmenwechsel erscheint unumgänglich.
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Artikel und Berichte:
- Rüegg, René (2022): Decision-making ability: A missing link between health literacy, contextual factors, and health. In: Health Literacy Research and Practice (in Erscheinung)
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Literatur und weiterführende Links:
- Parker, Ruth (2009): Measuring Health Literacy: What? So What? Now What? In: Lyla M. Hernandez: Measures of health literacy. Workshop summary. Institute of Medicine (U.S.) / Roundtable on Health Literacy / Summary of Roundtable on Health Literacy Workshop on Measures of Health Literacy, held February 26, 2009 in Washington, D.C. Washington, D.C.: National Academies Press, S. 91–98.
- Sørensen, Kristine; van den Broucke, Stephan; Fullam, James; Doyle, Gerardine; Pelikan, Jurgen; Slonska, Zofia; Brand, Helmut (2012): Health literacy and public health: a systematic review and integration of definitions and models. In: BMC public health 12, S. 80.
- Wieber, Frank; Ackermann, Günter; Juvalta, Sibylle; Marti, Simona (2022): Gesundheitskompetenz in herausfordernden Kontexten. Eine Bedarfsanalyse zur Förderung der Gesundheitskompetenz bei Menschen in schwierigen Lebenslagen durch sozialberatende Stellen. Züricher Fachhochschule. Zürich.
1 Kommentare
Annabel
Super Beitrag!