Was und wie viel braucht’s für ein Leben ohne Entbehrung?

Abgabe verbilligter Kartoffeln ca. 1916 an der Uraniastrasse in Zürich; © Baugeschichtliches Archiv, Foto: Gallas Wilhelm
Abgabe verbilligter Kartoffeln ca. 1916 an der Uraniastrasse in Zürich; © Baugeschichtliches Archiv, Foto: Gallas Wilhelm

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spitzte sich die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in der Schweiz zu. Dies gipfelte vor hundert Jahren im schweizerischen Landesstreik. Ein guter Anlass, um auf die Ursprünge der schweizerischen Ungleichheitsforschung einzugehen.

Diesen November jähren sich die ereignisreichen Tage des schweizerischen Landesstreiks zum 100. Mal. Rund eine Viertelmillion Menschen beteiligte sich 1918 am Streik, vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie forderten etwa eine sichere Lebensmittelversorgung und die Einführung von Sozialversicherungen. Und sie verlangten, dass die Besitzenden die kriegsbedingt gewachsenen Staatsschulden finanzieren sollten. Damit war die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit ein wichtiger Treiber des Landesstreiks. Die Schweiz blieb zwar von Kriegszerstörung verschont, doch die Lebenshaltungskosten hatten sich verdoppelt und die Kaufkraft der Arbeiterhaushalte war um ein Viertel gesunken. Schon vor 1918 kam es zu Demonstrationen gegen die Teuerung und für hungrige Arbeiterkinder gab es Suppenküchen. Die «soziale Frage» spitzte sich noch einmal zu.

Ursprünge der Ungleichheitsforschung

Im 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert drückte sich soziale Ungleichheit auch in der Schweiz noch handfest in Entbehrung aus: Kleine und schäbige Wohnungen, kaum Besitz ausser ein paar Kleidern und wenigen Möbeln sowie mangelhafte Ernährung. Das war die Realität in vielen Arbeiterhaushalten. Der an Fragen der sozialen Gerechtigkeit interessierte Carl Landolt lernte diese Realität als Mitarbeiter der Basler Wohnungsenquête von 1889 kennen. Ein Team aus Wirtschaftswissenschaftlern und Statistikern untersuchte damals die Wohnsituation und die hygienischen Verhältnisse der Basler Arbeiterschaft, wie man dies auch in anderen Städten tat. Doch Landolt wollte mehr. Er ärgerte sich über die Ansicht, die Arbeiterinnen und Arbeiter seien an ihrer misslichen Lage selber schuld, weil sie den Zahltag vertranken und nicht richtig haushalten würden. Er startete eine Untersuchung über «Auskommensverhältnisse» in Basler Arbeiterhaushalten. Landolt schloss damit an eine Tradition in der Erforschung sozialer Ungleichheit an, die bis ins späte 17. Jahrhundert zurückgeht.

Die Industrialisierung und die entstehende Sozialwissenschaft verstärkten seit dem frühen 19. Jahrhundert das Interesse an den Lebens- und Ernährungsverhältnissen der unteren Schichten. Zum internationalen Vorbild wurde 1855 eine grosse Umfrage in Belgien zu den Budgets der Arbeiterklassen. Dabei wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter mündlich nach ihren Einkommensverhältnissen, ihren Ernährungsgewohnheiten und ihren Haushaltausgaben befragt. In der Schweiz wandte der Glarner Arzt und Fabrikinspektor Fridolin Schuler diese Methode in den frühen 1880er-Jahren für seine Untersuchung zum Alkoholkonsum im Mittelstand und in den «ärmeren Klassen» an.

Existenzminimum anhand der Buchführung proletarischer Haushalte

Für Carl Landolt war ein solches Vorgehen zu wenig wissenschaftlich. Bei seiner Untersuchung mussten die beteiligten Familien ein Jahr lang ein Haushaltungsbuch führen, in welchem sie täglich notierten, wie viel und wofür sie Geld einnahmen und ausgaben. Bei den Einnahmen sollten sie zwischen Arbeitseinkommen und Mieteinnahmen aus der Kostgängerei – eine Kost-und-Logis-Untermiete, die damals weit verbreitet war – unterscheiden. Die Lebensmittelausgaben wurden in unterschiedliche Rubriken eingeteilt: Wurst, Fleisch, Brot, Reis, verschiedene Getreide, Teigwaren, frisches Gemüse, Hülsenfrüchte, Milch und Käse. Zudem enthielt das Haushaltungsbuch Rubriken für Mietausgaben und Wohnkosten wie Holz und Petrol, für Kleider, grössere Anschaffungen, Vereinsbeiträge, Restaurantkonsumation und Freizeitausgaben. Zusätzlich gaben die Familien an, wie viele Kinder in welchem Alter sie hatten, was die Eltern arbeiteten, wie es um die Gesundheit stand und wie gross ihre Wohnung war.

Aus all diesen Informationen erstellte Landolt 1891 eine Typologie der Basler Arbeiterhaushalte von «sehr arm» bis «verhältnismässig wohlsituiert». Er lieferte damit einen vielbeachteten Beitrag zur zeitgenössischen Debatte um das Existenzminimum. Mussten Arbeiterhaushalte ihren Proteinbedarf halt durch billigen Stockfisch decken statt durch teures Rindfleisch, wie etwa Otto Rademann in seiner Frankfurter Untersuchung von 1890 schlussfolgerte? Oder brauchte es höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, wie dies Gewerkschaften und linke Parteien forderten? Und wie hoch mussten die Löhne sein, um nicht nur die physische Existenz zu garantieren, sondern auch ein soziales Existenzminimum?

Der Vorgänger des Konsumentenpreisindex

Für den Freiburger Statistiker Jacob Lorenz war klar, dass man die Frage nach dem notwendigen Verhältnis von Lohn und Kaufkraft nur mittels statistischer Daten zu Löhnen, Preisen und Teuerung beantworten konnte. Die alte Methode der Haushaltsrechnungen überführte Lorenz 1915 in den ersten schweizerischen Lebenskostenindex. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Landesstreik einigten sich die 1918 noch so zerstrittenen Vertreter der Arbeitgebenden und der Arbeitnehmenden auf eine gemeinsame Methode. Die Erhebungsarbeit übernahm das neu geschaffene Eidgenössische Arbeitsamt.

Seit 1926 wird der Landesindex der Konsumentenpreise publiziert, der sich am durchschnittlichen «Warenkorb» von Schweizer Haushalten orientiert. Seither hat sich vieles verändert. Die Einkommensungleichheit ist insgesamt zurückgegangen – jedenfalls bis in die 1990er-Jahre, seither ist der Trend uneinheitlich. Die Armut infolge Alter, Krankheit oder Unfall wurde durch Sozialversicherungen und Umverteilung drastisch reduziert. Gleich blieb sich jedoch die schon 1882 vom preussischen Statistiker Ernst Engel verkündete Gesetzmässigkeit: Je weniger jemand verdient, desto mehr gibt er oder sie fürs Lebensnotwendige aus. Und desto weniger bleibt für Aus- und Weiterbildung und Karriere, für Mobilität und Wohnraum oder fürs Investieren, Sparen und die Vermögensbildung – denn diesbezüglich weist auch die Schweiz von heute grosse Ungleichheiten auf. Selbst in Zeiten des scheinbaren Überflusses lohnt es sich, an diesen banalen und trotzdem zentralen Faktor der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit zu erinnern.

 


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