Was Friedensarbeit in einem marginalisierten Quartier bewirkt

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Mit rund 160’000 Einwohnern und seinem grossen Einzugsgebiet ist Grenoble einer der grössten Stadträume mit Nähe zu den Alpen. Das Viertel Villeneuve liegt am Stadtrand und ist Schauplatz von verschiedenen Formen von Gewalt. Lokale Akteure setzen sich mit Methoden der Friedensforschung für ein gewaltfreies Zusammenleben ein. Wie und ob das funktioniert, hat die Autorin in ihrer Dissertation untersucht.

Wenn von Friedensförderung die Rede ist, denken die meisten Menschen an bewaffnete Konflikte in Ländern des globalen Südens und an Einsätze der Vereinten Nationen. Meine Untersuchungen im marginalisierten Grenobler Viertel Villeneuve zeigen nun aber, dass die Methoden der Friedens- und Konfliktforschung auch dazu dienen können, Gewalt in nicht-kriegerischen Kontexten zu verstehen. Im Quartier setzen sich viele lokale Gruppen und Akteure dafür ein, dass sich die Situation verändert und die Gewaltursachen bekämpft werden. Ein Beispiel dafür ist das Kollektiv «Agir Pour La Paix», das im Quartier Workshops für Jugendliche anbietet und Besuche in Schulen durchführt. In diesen vermittelt es kritisches Denken und versucht durch das Erzählen von Lebensgeschichten, das Zusammenleben im Quartier positiv zu beeinflussen.

Was haben die Menschen in Villeneuve mit den Menschen in Gebieten mit bewaffneten Konflikten gemeinsam? Erstens geht Frankreich seit den Anschlägen in Paris resolut und mit staatlicher Gewalt gegen terroristische Gewalt vor. Zweitens prägten in den vergangenen Jahrzehnten Polizeigewalt, Krawalle, Schlägereien sowie Brandanschläge gegen Schulen, Supermärkte und Autos das Viertel. Mehrere Bewohner*innen verloren dabei ein Familienmitglied. Zudem leiden die Einwohner*innen unter der Stigmatisierung des Viertels als gefährlichen Ort, den Fremde meiden. Sie sind in ihrem Quartier mit vielem konfrontiert, das aus Regionen mit bewaffneten Konflikten bekannt ist: Militarisierte Einsätze der Polizei, die Vernichtung von Menschenleben, die Zerstörung persönlicher Beziehungen, die Angst um die eigene physische Sicherheit und der Rückzug des Lebens in private Räume. Daraus können wir schliessen, dass solche Konflikte transformiert werden müssen, damit wir deren Ursachen angehen und zukünftige Gewalt verhindern können.

Die Entstehung von «Agir pour la Paix»

Das Jugendkollektiv «Agir pour la Paix» versucht, die Gewalt in der Nachbarschaft zu überwinden. Der Auslöser für dessen Gründung war der Tod zweier Freunde: Kevin und Sofiane wurden bei einer Auseinandersetzung mit einer Gruppe Jugendlicher aus einer benachbarten Gegend getötet. Mein Kollege, der Konfliktspezialist Herrick Mouafo, begleitete die Kerngruppe von Freunden der Getöteten zu dieser Zeit während eines Freiwilligeneinsatzes. Der Schwerpunkt seiner Begleitung lag darin, Emotionen wie Wut, Hass und Verlust in etwas Positives umzuwandeln. Gemeinsam beschäftigten sie sich mit der Frage, wie das Vermächtnis der verstorbenen Männer lebendig gehalten werden könnte, damit sie nicht umsonst gestorben sind.

Interessanterweise erklärten die jungen Männer die brutale Gewalt auf eine ganz andere Weise als lokale Politiker, die Presse und die Polizei. Sie beschrieben, dass das Viertel vor Gruppen aus anderen Gegenden geschützt werden und sein Ruf verteidigt werden müsse. Die Presse, die sie in ihren Berichten stigmatisiere, und die Polizei müssten auf Abstand gehalten werden. Vor allem die jüngeren und schlechter gestellten Bewohner von Villeneuve seien auf der Suche nach Respekt. Anfangs bekam diese Sichtweise kein Gehör. Durch die Bildung des Kollektivs «Agir pour la Paix» änderte sich dies: Die Gruppe wurde zur wichtigen Gesprächspartnerin bei Fragen zur Gewalt im Viertel.

Mit dem Friedensdiskurs Hass und Strafe überwinden

Für das Kollektiv bedeutete Frieden am Anfang nur die Vermeidung von Racheakten und weiterer Gewalt. Sie nahmen sich dafür die Eltern ihrer verstorbenen Freunde zum Vorbild, die aus religiöser Überzeugung dazu aufriefen, den Tod ihrer Kinder zu akzeptieren. Die Worte der Eltern waren für die Jugendlichen zwar sehr wichtig, ihre Wut konnten diese aber nicht vertreiben. Einige fanden Trost in der Vorstellung, die Täter würden im Jenseits von Gott oder Allah bestraft. Mit der Zeit lernten sie jedoch, den Frieden in einer grösseren Perspektive zu sehen, in der sie auch eine Rolle spielen können.

Herrick Mouafo, der sie immer noch begleitete, schlug eine Form des Friedensdiskurses vor, die darauf abzielt, friedliche Konzepte wie Solidarität, Freundschaft, Loyalität, Respekt und Hoffnung zu mobilisieren. Dies hilft sich eine Zukunft vorzustellen, die nicht gegeben ist, die verschiedene Formen annehmen kann und die von den im Jetzt getroffenen Massnahmen abhängt. Werden in der Öffentlichkeit friedliche Begriffe in Bezug auf die Gegenwart verwendet, ermutigt dies z.B. zu entsprechenden Handlungen. Dies half den Freunden und Verwandten, ihre Wut in gemeinsames Handeln umzuwandeln. Die dabei verwendeten Metaphern erlaubten es ihnen, über ihre Bilder von Wut, Hass und Bestrafung in der Hölle hinauszugehen. Die Jugendlichen fanden Worte, die ihre Vorstellungen über die Zukunft ausdrückten. Diese waren von den Werten inspiriert, die sie den beiden verstorbenen Freunden zuschrieben. Kevin und Sofiane wurden dadurch zu Vorbildern. Der Versuch, die Werte zu leben und zu verwirklichen, die sie an ihren verstorbenen Freunden geschätzt hatten, wurde zum Ziel des Kollektivs, was die Erinnerung an die beiden lebendig hielt.

Diese Erfahrungen zeigen, wie hilfreich es ist, Gewalt im grösseren Rahmen eines Konflikts zu betrachten. Dies macht es möglich, die Methoden der Konflikttransformation anzuwenden. Sie bietet relevante Instrumente, um die klare Kategorisierung in Opfer und Täter zu überwinden und einen Schritt vorwärtszukommen.

 


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