Vorläufig aufgenommene Kinder erhalten in der Schweiz deutlich tiefere Sozialhilfeleistungen als andere Kinder. Diese Kürzungen können ihre Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe gefährden. Dies zeigen Interviews mit Fachpersonen, die im Rahmen einer Masterthesis durchgeführt wurden. Eine Angleichung an die Regelsozialhilfe und eine Harmonisierung der kantonalen Ansätze wäre wünschenswert.
Wenn in der Schweiz vorläufig aufgenommene Kinder staatliche Unterstützung benötigen, erhalten sie Asylsozialhilfe. Diese muss von Gesetzes wegen tiefer als die Regelsozialhilfe ausfallen. Die je nach Kanton um 20% bis 60% gekürzten Ansätze liegen teils deutlich unter dem sozialen Existenzminimum. Denn während die reguläre Sozialhilfe als unterstes Netz der sozialen Sicherheit eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben ermöglichen soll, zielen die tieferen Ansätze der Asylsozialhilfe darauf, den Zuzug oder Verbleib in der Schweiz weniger attraktiv zu machen und einen stärkeren Anreiz zur beruflichen Integration zu schaffen.
Obwohl diese migrationspolitischen Ziele nicht direkt auf Kinder abzielen, sind sie davon mitbetroffen. Dies kann für ihre gesellschaftliche Teilhabe problematische Auswirkungen haben. Anhand von Interviews mit Fachpersonen der Asylsozialdienste Bern, St. Gallen und Uster untersucht die Masterthesis wie auf die spezifische Bedürfnisse von Kindern eingegangen werden kann und wo aus Sicht der Fachpersonen Handlungsbedarf besteht.
«Ein Kind hat die gleichen Bedürfnisse, unabhängig vom Status»
Für die gesellschaftliche Teilhabe und kindergerechte Entwicklung stellen finanzielle Mittel – nebst den familiären Verhältnissen und der Schule – eine zentrale Komponente dar. Vorläufig aufgenommene Kinder und Kinder mit anderem Aufenthaltsstatus unterscheiden sich gemäss den befragten Fachpersonen nicht in ihren Bedürfnissen. Aufgrund der Vorläufigkeit der Aufnahme sei das Integrationsbedürfnis nicht geringer. Entsprechend kann dies auch nicht als Argument für die tieferen Unterstützungsleistungen gelten. Dass die Leistungen in der Asylsozialhilfe unter dem sozialen Existenzminimum liegen, kann die gesellschaftliche Teilhabe von vorläufig aufgenommenen Kindern erschweren, etwa im Bereich der Freizeitaktivitäten:
«Man schiebt die Kinder noch mehr in eine Ecke, wenn ein Kind nicht in den Fussballclub gehen kann. Und der beste Freund kann es, nur weil er aus einem anderen Land kommt. Der soziale Kontakt mit anderen Kindern, das Gefühl ein Tor zu machen. Nur weil das Geld nicht reicht, kann das ein Kind nicht erleben.». Eine interviewte Fachperson
Besonders problematisch beurteilen die Fachpersonen die tieferen Ansätze bei Familien mit älteren Kindern. Die finanziellen Mittel reichen dann oftmals nicht für die Deckung der Bedürfnisse der Jugendlichen aus, was auch zu Auseinandersetzungen innerhalb der Familien führen könne.
Situationsbedingte Leistungen sind zentral für kinderspezifische Bedarfe
Um die Sozialhilfe auf individuelle Bedarfe auszurichten, können nebst der pauschalen Deckung von Lebenshaltungskosten auch situationsbedingte Leistungen gesprochen werden. Diese seien «matchentscheidend» für die gesellschaftliche Teilhabe vorläufig aufgenommener Kinder. So können in Uster jährlich bis zu CHF 1’000 für Freizeitaktivitäten von Kindern gesprochen werden. Dies reiche aus, um den Kontakt zu anderen Kindern zu ermöglichen und eine kindergerechte Entwicklung zu begünstigen. Im Unterschied dazu können in St. Gallen bis zu CHF 500, in Bern bis zu CHF 100 jährlich für Freizeitaktivitäten gesprochen werden. Entsprechend ist der Spielraum, die kinderspezifischen Bedarfe abzudecken, geringer.
Handlungsbedarf: Harmonisierung und Annäherung an die Regelsozialhilfe
Alle Fachpersonen sind sich einig, dass eine Annäherung an die sozialhilferechtliche Stellung anderer Kinder zu begrüssen wäre. Dies sei sozialpolitisch sinnvoll, da sich vorläufig aufgenommene Kinders faktisch meist dauerhaft in der Schweiz aufhalten. Es drängt sich auch rechtlich auf, alle Kinder vor dem Hintergrund gleicher Bedürfnisse rechtsgleich zu behandeln. Als besonders stossend sehen die Fachpersonen die teils grossen kantonalen Unterschiede, sowohl bei den Grundbedarfsleistungen als auch den situationsbedingten Leistungen. Hier sei eine Harmonisierung zwischen den Kantonen dringend angezeigt, da keine sachliche Grundlage für diese Unterschiede besteht und dadurch mehr Rechtsgleichheit geschaffen würde.
Der juristische Teil der interdisziplinären Masterthesis widmet sich den tieferen Ansätze der Asylsozialhilfe (Art. 86 AIG) und legt die Bestimmung mit Blick auf die Situation von vorläufig aufgenommenen Kindern aus. Die Autorin kommt zum Schluss, dass die tieferen Sozialhilfeansätze für vorläufig aufgenommene Kinder aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zur Anwendung kommen dürften.
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Artikel und Berichte:
- Hänggeli, Alissa (2024): Zwischen sozialer Sicherheit und Asyllogik: Die Ausgestaltung der Asylsozialhilfe für vorläufig aufgenommene Kinder aus juristischer und soziologischer Perspektive; Masterarbeit in European Global Studies, Universität Basel
- Hänggeli, Alissa (2024): Vorläufig aufgenommene Kinder in der Asylsozialhilfe; in: Jusletter 16. Dezember 2024
Literatur und weiterführende Links:
- Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG)
- Bundesrat (2019): Kompetenzen des Bundes im Bereich der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten; Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates der Staatspolitischen Kommission des Ständerates 17.3260 vom 30. März 2017; Bern
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