Ende Mai erklangen in Bern West neue Töne. Mit der Intervention «Mein Lied fürs Tscharni» wurde das bisherige Liederrepertoire des bekannten Glockenspiels für Melodien der heterogenen Quartierbevölkerung geöffnet. Im transdisziplinären Projekt «Quartier für alle» suchen das Departement Soziale Arbeit und die HKB mit Praxispartner*innen und Quartierbewohnenden nach Wegen, die Beteiligungsmöglichkeiten im Quartier diversitätssensibler zu gestalten.
«Hast du dich auch schon mal gefragt, wie die Liederauswahl des Glockenspiels zustande kommt?» So beginnt die Ansage zum Live-Konzert des Glockenspiels am Tag der Nachbarschaft im Tscharnergut. Auf den gut besetzten Festbänken versammeln sich Quartierbewohner*innen rund um den Glockenturm, einem Wahrzeichen von Bern West. Sie sind rege im Gespräch, essen Crêpes, und die Stimmung ist heiter an einem der ersten warmen Abende dieses Jahres. «Wir haben uns Gedanken dazu gemacht, wie das Liederrepertoire des Glockenspiels erweitert werden kann, damit Melodien im Quartier ertönen, die für alle Bewohner*innen eine Bedeutung haben». Ursula, die Glöcknerin, stellt das erste Lied vor und Markus, ein Pianist aus dem Quartier, spielt den Refrain auf dem Klaviaturkasten ein. Und schon läuten die Glocken die Melodie. An Wäscheleinen sind farbige Plakate angebracht, mit den Titeln der gespielten Lieder und Hinweisen auf die emotionale Bedeutung des Lieds für die Person, die es gewünscht hat.
Der symbolische und hörbare Auftakt des Projekts «Quartier für alle» stellt die erste von insgesamt fünf Interventionen dar, die im Stadtteil realisiert werden. Das Ziel der Intervention bestand darin, ein bis anhin von wenigen, engagierten Personen kuratiertes kulturelles Symbol im Stadtteil zu vergemeinschaften und für die breite heterogene Quartierbevölkerung zugänglicher zu machen. Der Glockenturm vom Tscharnergut ist mit seinen 36 Metern ein stattliches und zentral gelegenes Wahrzeichen des Stadtteils. Tagsüber, jeweils vor der vollen Stunde, lassen die 18 Glocken eine Melodie aus einem Repertoire erklingen, das über 100 Lieder umfasst. Da das Denkmal keinen religiösen Ursprung hat, verfügt es über das Potenzial, für alle Bewohnenden des Quartiers identifikationsstiftend zu sein. Bis anhin widerspiegelte das Liederrepertoire jedoch vor allem traditionelle Melodien aus dem lokalen und schweizerischen Kontext. Mit der Intervention soll es erweitert und die Möglichkeit eröffnet werden, bedeutsame Lieder aus der gesamten Quartierbevölkerung aufzunehmen und der Vielfalt im Stadtteil eine Stimme zu verleihen.
Der Schlüssel sind die Menschen aus dem Quartier
Doch wie kann die Beteiligung am Quartiergeschehen diversitätssensibler erfolgen und die Partizipationsmöglichkeiten geöffnet werden? Wie können alltags- und lebensweltnahe Formate ausgestaltet werden, damit auch Menschen erreicht werden, die auf dem Weg zur Teilhabe immer wieder mit Hürden konfrontiert sind? Und wie können Spielräume geschaffen und Dialogformen für Quartierthemen und das Zusammenleben in der Nachbarschaft erprobt werden? Entscheidend ist der Aufbau eines Netzwerkes, das bedarfsorientiert, quartiernah und divers zusammengesetzt ist und dadurch sowohl Zugang zu bestehenden als auch zu neuen Kontakten im Quartier ermöglicht. Durch die Zusammenarbeit von Personen aus Wissenschaft und Praxis, der Zivilgesellschaft sowie aus Politik und Verwaltung wird ein solches Vorhaben breit abgestützt und es wird gemeinsam an der Veränderung bisheriger Strukturen gearbeitet.
Im Soziallabor «Quartier für alle» werden Interventionen in einem sozialen Kontext umgesetzt, um mehr über soziale Dynamiken und Prozesse zu erfahren. Soziallabore verfolgen einen Ansatz des transformativen Forschens. Sie arbeiten mit Methoden der kollaborativen Wissensgenerierung und verfolgen drei Ziele: Sie produzieren Erkenntnisse und neues Wissen (Forschungsziele), sie unterstützen individuelle und kollektive Lernprozesse (Bildungsziele), und sie stossen Veränderungsprozesse an (Praxisziele). Soziallabore bedienen sich dabei oft eines experimentellen Ansatzes.
Mit Interventionen Prozesse einleiten und Wissen erzeugen
Im Projekt «Quartier für alle» haben wir ein exploratives und iteratives Vorgehen mit drei ineinandergreifenden Phasen gewählt. Durch die kollaborative Entwicklung ergebnisoffener Impulse und künstlerischer Interventionen sollen neue Formen einer vielstimmigen Wissensproduktion zum Leben im diversen Quartier generiert und Möglichkeitsräume geschaffen werden, die zur sozialen Teilhabe beitragen.
Für die Erweiterung des Liederrepertoires des Glockenspiels haben wir eng mit Fachpersonen der Quartierarbeit, der Quartierkommission und Schlüsselpersonen aus dem Quartier zusammengearbeitet. So konnten wir im Vorfeld Kontakt zu Menschen herstellen, die sich freuten, dass sie sich durch eine Liedereingabe symbolisch mehr Gehör im Quartier verschaffen können.
Am Tag der Nachbarschaft kommt die Aktion «Mein Lied fürs Tscharni» gut an. Musik als verbindendes Element wird da und dort zum Tischgespräch und der Briefkasten für weitere Liedervorschläge füllt sich im Verlauf des Abends. Wird ein Lied erkannt, wird mitgesummt oder der Moment mit einem Lächeln im Gesicht genossen.
Kontakt:
- Simone Gäumann, Dozentin, Institut Soziale und kulturelle Vielfalt
- Beatrice Kaufmann, Projektmitarbeiterin, Hochschule der Künste, Institute of Design Research
- Dana Pedemonte, Kommunikationsdesignerin, Face Migration
- Dr. Annina Tischhauser, Dozentin, Institut Soziale und kulturelle Vielfalt
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1 Kommentare
MichelClaudia
Tolles Projekt, das die Ressourcen im Quartier mehr Menschen zugänglich macht. Mein Lied wäre: Für immer uf di!