Wie sehen Schulsozialarbeiter*innen ihre Funktionen und Zuständigkeiten bei der inklusiven Bildung im Kanton Bern? Eine qualitative Studie gibt Einblicke in die Herausforderungen und Chancen für die Sozialarbeit im Bereich der inklusiven Bildung.
Im Kanton Bern besteht ein Konsens darüber, dass der Begriff Schulsozialarbeit ein freiwilliges, niederschwelliges und dauerhaftes Angebot in den Bereichen der Prävention, Beratung und Vermittlung im Kontext Schule darstellt. Die Klient*innen von Schulsozialarbeiter*innen sind im Wesentlichen alle Kinder und Jugendlichen im Schulalter, einschließlich solcher mit besonderem sozialpädagogischem Förderbedarf. Gleichwohl verdeutlichen die vom Kanton angestrebten Erhebungen im Bereich der inklusiven Bildung vor allem die Besonderheiten interprofessioneller Zusammenarbeit aus pädagogischer Sicht, während die Perspektive der Schulsozialarbeiter*innen in diesem Kontext bisher noch nicht untersucht wurde. Derweil stellt die globale Vision, eine «Schule für alle» zu schaffen, nicht nur pädagogisches Personal vor Herausforderungen, sondern auch Schulsozialarbeiter*innen, da sie die Notwendigkeit hervorhebt, neue Bereiche beruflicher Praxis zu umreißen und ihre «ursprünglichen» Funktionen an die Bedürfnisse ausnahmslos aller Kinder und Jugendlichen anzupassen.
Die Rolle und Perspektive von Schulsozialarbeiter*innen im schulischen Kontext
In der Fachliteratur spielen Sozialarbeiter*innen eine entscheidende ergänzende Rolle. Sie verbinden die Schule mit anderen Dienstleistungen auf kommunaler Ebene oder informieren die Klient*innen bei einem breiteren Bildungsangebot über die innerhalb und jenseits von Schule bestehende Angebote. Ebenso vermitteln sie ihnen den Zugang zu diesen und ermöglicht die interprofessionelle Kooperation zwischen Fachleuten mit unterschiedlichem beruflichem Hintergrund in der Schule. Im Gegensatz zu den in der Fachliteratur beschriebenen relativ breitgefächerten Rollen und Funktionen beschreiben sich Schulsozialarbeiter*innen im Kanton Bern vor allem als Beratungsstelle.
«… wir sind eine unabhängige Beratungsstelle innerhalb der Schule, aber wir sind nicht von der Schule angestellt. Das bedeutet, dass wir in unseren fachlichen Aufgaben unabhängig sind. Uns ist wichtig, dass Klient*innen einen einfachen und eigenständigen Zugang zu uns haben.» (Schulsozialarbeiter*in, Stadt Bern, 56 Jahre)
Ein gemeinsames Verständnis inklusiver Bildung ist erforderlich
Sozialarbeiter*innen legen nahe, dass Erörterungen zu ihrer Einbindung bei der Umsetzung inklusiver Bildung parallel zu den Reformen auf Schulebene abgehalten werden sollten. Mit anderen Worten ist inklusive Bildung kein Prozess, der von einem einzigen Experten geleitet wird, sondern einer, in den alle Fachleute in der Schule, Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern eingebunden sind. Sozialarbeiter*innen beobachten einen fehlenden Willen auf Seiten der Schule und schulischer Fachkräfte, sich für Veränderung und Innovation zu öffnen. Schulen verfügen oft über ihre eigenen, fest etablierten Strukturen. Gespräche über die Verlagerung oder Weiterentwicklung dieser Strukturen wecken Ängste und Unsicherheit unter den Mitgliedern interprofessioneller Teams. Daher wird von Schulsozialarbeiter*innen oft erwartet, ihre fachlichen Ansätze und Zielsetzungen an den von der Schule gesteckten Rahmen anzupassen. In der Praxis schränkt diese Situation die professionelle Einbindung und Partizipation von Schulsozialarbeiter*innen an unterschiedlichen Bereichen drastisch ein.
«… Ich denke, es ist wichtig, die schulischen Strukturen ein Stück weit aufzubrechen, sodass auch ich mich selbst mit meinen Fähigkeiten zeigen kann.» (Schulsozialarbeiter*innen, Stadt Bern, 32 Jahre)
Gegenwärtig bieten Sozialarbeiter*innen im Kanton Bern oft konkrete Dienstleistungen für Kinder mit besonderem sozialpädagogischem Förderbedarf an, indem sie die Heilpädagogen beraten, die unmittelbar verantwortlich für ihr Wohlergehen und ihre schulische Bildung sind.
«… wenn es in der Klasse Schwierigkeiten gibt, ist die Heilpädagogin und nicht unbedingt ich der erste Ansprechpartner für das betreffende Kind. Wenn die Heilpädagogin mich jedoch braucht, kann sie sich natürlich zur Unterstützung an mich wenden.» (Schulsozialarbeiter*in, Stadt Bern, 56 Jahre)
Kooperation zwischen den Fachleuten und mehr Ressourcen
Darüber hinaus setzen Schulsozialarbeiter*innen individuelle Beratungen für Eltern um und betonen die Relevanz des regelmäßigen Dialogs mit ihnen. Eltern werden von Schulsozialarbeiter*innen als wichtige Informationsquelle angesehen, insbesondere im Zusammenhang mit dem frühzeitigen Erkennen von Faktoren, die das Kind negativ beeinflussen. Im Fall von Kindern und Jugendlichen mit besonderem sozialpädagogischem Förderbedarf wird die Arbeit mit Eltern vor allem von Heilpädagog*innen durchgeführt. Gleichwohl kann hier die Frage aufgeworfen werden, ob Heilpädagog*innen fachlich gerüstet sind, um therapeutisch mit Eltern zu arbeiten, die möglicherweise vor unterschiedlichen sozioökonomischen und psychologischen Herausforderungen stehen. In diesem Zusammenhang könnten die Kooperation zwischen Sozialarbeiter*innen und Heilpädagog*innen und die Zusammenführung ihrer entsprechenden Fähigkeiten Synergien schaffen, die ein umfassenderes Eingehen auf die Bedürfnisse der Eltern ermöglichen.
Zu den Aufgaben von Schulsozialarbeiter*innen gehören Gruppenvermittlungen und thematische Projekte in Kooperation mit Lehrenden. Diese verfolgen das Ziel, das Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen für ihre Rechte, bestehende Dienstleistungen und die Stellen zu stärken, an die sie sich im Fall einer Gefährdung ihres Wohlbefindens wenden können. In diesen Fällen treffen Sozialarbeiter*innen in der Regel keine Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen mit oder ohne besonderen sozialpädagogischen Förderbedarf, sondern geben allen die Möglichkeit, an der Gruppenarbeit teilzunehmen. Angesichts der finanziellen und zeitlichen Beschränkungen, denen die Schulsozialarbeiter*innen gegenüberstehen, ist die Umsetzung solcher Projekte eine Herausforderung.
Die Gatekeeper-Funktion von Schulsozialarbeiter*innen
Gegenwärtig finden sich Kinder und Jugendliche mit besonderem sozialpädagogischem Förderbedarf schnell auf Sonderschulen wieder, weil Regelschulen oft die Kapazität fehlt, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Hat Sozialarbeit das Potenzial, durch die Arbeit mit den Kindern einerseits als Ressource und auf der anderen Seite als «Gatekeeper» zu agieren, um wenn möglich zu verhindern, dass sie auf Sonderschulen landen? Dies sind Fragen, die evidenzbasierte Antworten durch weitere Forschung erfordern. Ein derzeit möglich Schlussforderung ist, dass eine fachliche Diskussion über die weitergehende Einbindung von Sozialarbeiter*innen und ihren neuen Zuständigkeitsbereichen im Zusammenhang mit inklusiver Bildung parallel zu Reformen und Veränderungen auf Schulebene erfolgen sollte, zusammen mit der Bereitstellung von mehr Ressourcen und methodischer Anleitung für Schulsozialarbeiter*innen.
Kontakt:
- Mariam Mazmanyan, externe Fachperson
- Prof. Dr. Emanuela Chiapparini, Leiterin des Instituts für Kinder, Jugend und Familie
Partner und Projekte:
Literatur und weiterführende Links:
- Baier, Florian (2007): Zu Gast in einem fremden Haus. Zugl.: Diss. Universität Lüneburg, Fachbereich Erziehungswiss., 2006. Lang, Bern.
- Bauer, Petra (2014): Kooperation als Herausforderung in multiprofessionellen Handlungsfeldern, w: Sozialer Wandel, red. Stefan Faas i Mirjana Zipperle. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, s. 273–286.
- Chiapparini, Emanuela, Stohler, Renate i Bussmann, Esther (red.) (2018): Soziale Arbeit im Kontext Schule. Aktuelle Entwicklungen in Praxis und Forschung in der Schweiz. Opladen: Budrich UniPress Ltd.
- Haude, Christin; Volk, Sabrina; Fabel-Lamla, Melanie (2018): Schulsozialarbeit inklusive. Ein Werkbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Hostettler, Ueli; Pfiffner,Roger; Ambord, Simone; Brunner, Monique (2020): Schulsozialarbeit in der Schweiz. Angebots-, Kooperations- und Nutzungsformen. Bern, Hep Verlag AG.
- Pfister, M., Stricker, C., & Jutzi, M. (2015): Evaluation der Umsetzung von Artikel 17 des Volksschulgesetzes: Porträts und Erfahrungen von elf Schulstandorten im Kanton Bern.
- Speck, Karsten (2006): Qualität und Evaluation in der Schulsozialarbeit. Zugl.: Halle (Saale), Univ., Diss., 2005. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.
- Stüwe, Gerd; Ermel, Nicole; Haupt, Stephanie (2017): Lehrbuch Schulsozialarbeit. 2., überarbeitete Auflage. Weinheim: Basel; Beltz Juventa.
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