Unterschiedliche kantonale Sozialhilfegesetze – ein Hindernis für Betroffene?

Foto: istock francescoch

Viele Menschen, die Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe hätten, machen diese nicht geltend. Fördern die in kantonalen Sozialhilfegesetzen verankerten Regelungen diesen Nichtbezug? Ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt sucht nach Antworten. Nach den ersten zwölf Monaten des vierjährigen Projekts liegen erste Zwischenresultate vor.

Die schweizerische Sozialhilfe fusst weitgehend auf kantonalem Recht. In 26 Gesetzgebungen legen die Kantone fest, wie hoch die Leistungen sind, und ob und unter welchen Voraussetzungen sie gekürzt werden können (individuelle Ebene). Darüber hinaus definieren sie, wie die Sozialhilfe organisiert ist (organisational-strukturelle Ebene): Welche Behörde entscheidet über einen Antrag? Wird in den Sozialdiensten qualifiziertes Fachpersonal der Sozialen Arbeit eingesetzt? Beteiligt sich der Kanton an den Kosten der wirtschaftlichen Sozialhilfe?

Das Forschungsprojekt «Recht und Wirklichkeit in der Sozialhilfe» geht von folgender These aus: Regelungen auf diesen beiden Ebenen können so ausgestaltet sein, dass sie einen tatsächlichen Leistungsbezug fördern. Allerdings können potenzielle Leistungsbezüger*innen von Regelungen auch abgeschreckt werden, etwa durch ausgedehnte Rückerstattungspflichten oder die persönliche Nähe zu den Behörden in kleinen Gemeinden. Eine Vielzahl solcher Regelungen kann dazu führen, dass die Sozialhilfe ihre eigentliche Aufgabe, eine menschenwürdige Existenz zu sichern und soziale Teilhabe zu ermöglichen, nicht mehr erfüllt.

Interkantonaler Vergleich als erster Schritt

In einem ersten Schritt werden alle kantonalen Sozialhilfegesetze auf Aspekte hin untersucht, die für die konkrete Geltendmachung eines sozialhilferechtlichen Anspruchs relevant sind (sog. Mobilisierung oder auch Rechtsmobilisierung). Dazu wurde ein Indikatorensystem entwickelt, welches 10 Indikatoren und knapp 50 Teilindikatoren umfasst.

Die Indikatoren leiten sich einerseits aus bestehender allgemeiner Literatur zur Mobilisierung des Rechts ab (deduktiv), andererseits ergeben sich gewisse Indikatoren auch aus der konkreten Ausgestaltung der kantonalen Gesetze (induktiv). Jedem Teilindikator wurde die entsprechende kantonale Regelung zugewiesen – oder festgestellt, dass es an einer Regelung fehlt. Bestehende Regelungen werden auf einer Skala von 0 bis 5 bewertet, wobei ein Wert von 0 bedeutet, dass die Norm der Mobilisierung des Rechts im Wege steht, während ein Wert von 5 auf eine mobilisierungsfreundliche Norm hindeutet. So werden Unterschreitungen der breit akzeptierten Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS – z.B. durch einen tieferen Grundbedarf für den Lebensunterhalt – mit tieferen, grosszügigere Regelungen – etwa bei den Integrationszulagen – mit höheren Punktzahlen abgebildet.

Deutliche Unterschiede bei organisational-strukturellen Fragen

Diese indikatorengeleitete Analyse wurde zum jetzigen Zeitpunkt für 22 Kantone vorgenommen und in Netzdiagrammen abgebildet, von denen vier nachfolgend beispielhaft abgebildet sind.

In den Netzdiagrammen weisen alle vier Beispielkantone auf der individuellen Ebene (rechte Hälfte des Netzdiagramms) verschiedene und teilweise gewichtige Abweichungen vom Leistungsniveau der SKOS-Richtlinien auf. Die Unterschiede auf der organisational-strukturellen Ebene sind aber noch ausgeprägter. Für die zentrale Frage des Forschungsprojekts, ob die Gesetze den Nichtbezug befördern, scheinen insbesondere folgende Aspekte relevant:

  • Der Indikator «Mobilisierungsfreundlichkeit der Organisation» wird etwa davon beeinflusst, ob es Vorgaben gibt, damit kleinere Gemeinden sich zu grösseren Sozialdiensten zusammenschliessen (Regionalisierung). Nur Sozialdienste mit einem minimalen Einzugsgebiet erreichen nämlich eine kritische Grösse, um Fachpersonal anzustellen. Kanton B kennt diesbezüglich konkrete Vorgaben für die Ausbildung des Fachpersonals und setzt starke Anreize zur Regionalisierung. Die Entscheidungskompetenz liegt bei diesen professionalisierten Diensten. Kanton C setzt zwar Anreize zur Regionalisierung und Professionalisierung der Instanzen, die den Entscheid vorbereiten, überlässt den Entscheid dann jedoch politisch zusammengesetzten Kommissionen der Gemeinden. Kanton D kennt diesbezüglich keine Vorgaben; Kanton A hält lediglich fest, dass Sozialhilfeentscheide durch fachlich geeignetes Personal zu fällen sind.
  • Der Indikator «Mobilisierungsfreundlichkeit der Finanzierung» bildet ab, ob eine Gemeinde in ihrem Budget konkret spürt, ob die beantragenden Sozialhilfeempfänger*innen in der eigenen Gemeinde oder in der Nachbargemeinde ihren Wohnsitz haben. Je weniger sich eine Leistungsgewährung finanziell auf die entscheidende Gemeinde auswirkt, desto eher werden Ermessensspielräume zielorientiert genutzt und wird über bestehende Ansprüche aufgeklärt. In den Beispielkantonen ist diese Bedingung im Kanton B am ehesten erfüllt, während in den Kantonen A, C und D nur teilweise die Lasten ausgeglichen werden.

Ausblick

Die bisherigen Resultate der Studie werden in einem nächsten Schritt zur Qualitätskontrolle mit Expert*innen des jeweiligen kantonalen Sozialhilfesystems abgeglichen. Danach werden in vier bis acht Kantonen vertiefende Fallstudien durchgeführt. In diesen wird überprüft, ob und inwiefern sich diese augenscheinlichen gesetzlichen Unterschiede in der Praxis niederschlagen. Dazu werden Gespräche mit Sozialhilfebeziehenden und mit Menschen geführt, die auf Sozialhilfe verzichten: Welchen Einfluss haben die Regelungen tatsächlich auf ihre jeweilige Entscheidung, Sozialhilfe zu beziehen oder zu verzichten? In gut drei Jahren wird das Projekt mit Handlungsempfehlungen zum Abbau von Hürden beim Zugang zur Sozialhilfe abschliessen.

 


Kontakt:

 

Partner und Projekte:

 

Literatur und weiterführende Links:

Beitrag teilen
0 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.