Die COVID-19-Pandemie führte in der Schweiz bisher nicht zu weit verbreiteten Prekarisierungsprozessen. Aber sie verschärfte Ungleichheiten: Je tiefer das Haushaltseinkommen ausfällt, umso höher sind die finanziellen und gesundheitlichen Risiken. Dies auch weil die Zugänge zur Grundversorgung nicht immer sichergestellt sind.
Auch wenn für die Schweiz noch keine Statistiken zur generellen Armutsentwicklung während der Pandemie vorliegen, kann die aktuelle Datenlage optimistisch interpretiert werden. Laut Analysen des Bundesamts für Statistik verbesserte sich 2021 die subjektive Einschätzung der finanziellen Situation der Haushalte gegenüber 2019: Während damals noch 12,2% der befragten Personen angaben, ihr Haushalt habe Schwierigkeiten finanziell über die Runden zu kommen, sagen dies im Jahr 2021 noch 8,5%.
Sozialhilfezahlen bleiben stabil
Auch bei der Sozialhilfe blieb der befürchtete starke Fallanstieg vorerst aus. Schweizweit ist die Sozialhilfequote 2020 stabil bei 3,2%. Gemäss dem Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe, der 14 Schweizer Städte untersucht, sinken in Städten, die 2019 sinkenden Fallzahlen hatten, die Zahlen im Jahr 2020 gar weiter. Die der Sozialhilfe vorgelagerten Sozialversicherungen und Unterstützungsleistungen von Bund, Kantonen und Gemeinden – u.a. die Kurzarbeitsregelung, der Corona-Erwerbsersatz und die Erhöhung der Arbeitslosentaggelder – konnten die Existenz eines Grossteils der Betroffenen sichern.
Verschärfung der Ungleichheit
Diese erfreulichen Nachrichten sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Corona-Pandemie die Ungleichheit in verschiedener Hinsicht verschärft hat. So mussten gemäss den Daten des BFS rund 20% des ärmsten Fünftels der Haushalte pandemiebedingte Einkommenseinbussen in Kauf nehmen. Beim reichsten Fünftel waren es lediglich 7% der Haushalte.
Zur Verschärfung der finanziellen Ungleichheit trug zudem bei, dass Haushalte mit niedrigen Einkommen während den Zeiten mit reduzierten Konsummöglichkeiten weniger sparen konnten als einkommensstarke Haushalte, da Fixkostenposten wie die Miete, Nahrungsmittel, Versicherungen und Gesundheitsausgaben den grössten Teil der Ausgaben ausmachen.
Die Pandemie macht aber auch im Gesundheitsbereich Ungleichheiten sichtbar. So erhöht ein tiefer sozioökonomischer Status die Risiken an COVID-19 zu erkranken, u.a. da diese Menschen häufiger in Berufen mit Kundenkontakt arbeiten, ihre Mobilität entsprechend weniger stark reduzieren können und zudem häufiger in beengten Wohnverhältnissen leben. Und nicht nur das Ansteckungsrisiko ist höher, sondern auch das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs und das Todesfallrisiko sind für sie grösser. Dies kann u.a. auf eine unterschiedliche Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen, wie die spätere Testung auf eine Corona-Infektion, zurückgeführt werden.
Prekäre Ausgangslage und Nichtbezug
Die finanzielle Betroffenheit – weil beispielsweise das Einkommen aufgrund der Krise eingebrochen oder weggebrochen ist – führte bei vielen Personen vermehrt zu Stress und Sorgen, insbesondere wenn aufgrund einer kurzfristigen Arbeitserlaubnis oder eines irregulären Beschäftigungsverhältnisses kein Zugang zu Sozialleistungen bestand. Ebenfalls verzichteten viele Betroffene auf den Bezug solcher Leistungen, da sie ausländerrechtliche Konsequenzen befürchteten, aber auch aus Scham oder aus Angst vor Schikanen und einer möglichen Rückerstattungspflicht.
Gerade die besonders prekäre Lage von Personen mit kurzfristiger oder gar keiner Arbeitserlaubnis wurde durch die Pandemie ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Denn hier ergab sich eine massive Nachfrage nach niederschwelligen Hilfen in den Bereichen Nahrungsmittelversorgung, Wohnraum und finanzieller Unterstützung. Gefordert war auch die öffentliche Sozialhilfe, die vor allem während der ersten Welle im Frühjahr 2020 viele zusätzliche Anmeldungen bewältigen musste.
Der Prekarisierung entgegenwirken
Die Pandemie führte in der Schweiz zumindest vorübergehend zu einer Verschärfung der Ungleichheit. Ob längerfristig mit zusätzlichen Präkarisierungsprozessen gerechnet werden muss, ist derzeit noch unklar. Es wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen, ob der durch die Pandemie beschleunigte wirtschaftliche Strukturwandel verfestigte Armutslagen verschärft oder diesen eher entgegenwirkt.
Längerfristig relevant wird sicher sein, inwiefern die durch die Pandemie sichtbar gewordenen oder gar verstärkten Ungleichheitsfaktoren durch gezielte Investitionen zur Verbesserung der Chancen der weniger Privilegierten abgeschwächt werden. So könnte beispielsweise die verstärkte Thematisierung des Problems der Bildungsungleichheit im Zuge des «Distance Learnings» dazu beitragen, der Chancengleichheit in digitalen Formaten und im Fernunterricht besser Rechnung zu tragen.
Auch haben die Erfahrungen mit der Pandemie aufgezeigt, wie wichtig eine gezielte und frühzeitige Vernetzung der Fachleute ist, um besonders benachteiligten Gruppen den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Hilfeleistungen zu ermöglichen. Auch hier können aus der Pandemie wichtige Lehren gezogen werden.
Kontakt:
Artikel und Berichte:
- Beyeler, Michelle; Hümbelin, Oliver; Korell, Ilona; Richard, Tina; Schuwey, Claudia (2021): Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Armut und sozioökonomische Ungleichheit; Bundesamt für Sozialversicherungen, Bern
- Beyeler, Michelle (2021): Folgen der Corona-Pandemie für Armut und sozioökonomische Ungleichheit. CHSS
- Beyeler, Michelle; Schuwey, Claudia; Richard, Tina (2021): Sozialhilfe in Schweizer Städte. Die Kennzahlen 2020 im Vergleich; Städteinitiative Sozialpolitik, Winterthur
Literatur und weiterführende Links:
- Bundesamt für Statistik (2021a): Covid-19 und Lebensbedingungen in der Schweiz (SILC); Stand 6.10.2021
- Bundesamt für Statistik (2021b): Trotz Covid-19 bleibt die Sozialhilfequote im Jahr 2020 unverändert bei 3,2%. In: BFS Aktuell (Dezember 2021)
- Riou, Julien et al (2021): Socioeconomic position and the COVID-19 care cascade from testing to mortality in Switzerland: a population-based analysis. In: The Lancet Public Health
0 Kommentare