Unabhängig, aber arm: Zur Dauer des Nichtbezuges von Sozialhilfe

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Es gibt Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben und trotzdem keine Sozialhilfe beziehen. In einer Studie für die Sozialhilfe Basel-Stadt wurde erstmals untersucht, ob es sich beim Nichtbezug um ein kurzfristiges oder länger andauerndes Phänomen handelt. Was bedeuten die Erkenntnisse für die Armutsbekämpfung?

Die Sozialhilfe schützt Menschen in finanzieller Not vor Armutsfolgen. Dass trotz Notlage nicht alle Menschen die Unterstützung der Sozialhilfe aufsuchen, ist bekannt. Ebenso ist bekannt, dass dafür unterschiedliche Gründe eine Rolle spielen. Dazu gehört fehlendes Wissen, Scham, der Wunsch nach Unabhängigkeit oder rechtlich-administrative Hürden. Ein Leben in Prekarität birgt allerdings Risken: Es geht häufig mit einer Verschlechterung der Gesundheit einher, es besteht ein erhöhtes Risiko einer Überschuldung und bei Kindern in armutsbetroffenen Familien besteht die Gefahr, dass sie nicht angemessen gefördert werden. In einer solchen prekären Lebenslage kann die Sozialhilfe individuell beraten und langfristig persönliche und gesellschaftliche negative Folgen von Armut mindern.

Nichtbezug von Sozialhilfe rückt in den Fokus der Behörden

Es erstaunt deswegen nicht, dass Behörden und Entscheidungsträger*innen vermehrt darüber diskutieren, wie dem Phänomen des Nichtbezuges begegnet werden soll. Auch im Kanton Basel-Stadt interessieren sich die Amtsstellen dafür, ob die Bedarfsleistungen ihre Zielgruppen erreichen. Im Auftrag des Kantons untersuchte die BFH in zwei Studien, wie viele Menschen trotz rechnerischem Anspruch keine Prämienverbilligungen, Ergänzungsleistungen und Familienmietzinsbeiträge beziehen und wie sich der Nichtbezug von Sozialhilfe in den Jahren 2016 – 2020 verändert hat. Dank passgenauer Indikatoren kann der Kanton Basel-Stadt nun viel besser einschätzen, welche Bevölkerungsgruppen zu den Nichtbeziehenden gehören. Gleichzeitig helfen die Erkenntnisse, besser zu verstehen, wie sich die Situation der Armutsbetroffenen ausgestaltet und verändert. So kann anhand der zeitlichen Veränderungen sichtbar gemacht werden, wie sich die Dunkelziffer der Armut im ersten Pandemiejahr veränderte und welche Rolle das Ausländer- und Integrationsgesetz beim Zugang zur Sozialhilfe von Personen ohne Schweizer Pass spielt.

Viele sind über einen längeren Zeitraum nichtbeziehend

An dieser Stelle soll das Schlaglicht aber auf ein anderes Thema gerichtet werden. Bisher war nämlich unbekannt, ob der Nichtbezug ein kurzfristiges, vorübergehendes Phänomen ist oder ob Menschen über einen längeren Zeitraum unterhalb des sozialen Existenzminimums leben. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen wurden die individuellen Verläufe von Personen über fünf Jahre betrachtet. Die untenstehende Abbildung zeigt ausgehend von den Personen, deren Eigenmittel 2018 tiefer waren als das sozialhilferechtlich relevante Existenzminimum, wie sich die Situation in den zwei Jahren davor und danach veränderte. Dabei sind verschiedene Entwicklung möglich. Betroffene können beispielsweise mehrere Jahre zu den Nichtbeziehenden gehören, sie können vorher oder nachher Leistungen der Sozialhilfe beansprucht haben oder sie konnten ausreichend Eigenmittel erwirtschaften. Ein Teil der Gruppe ist mobil – d.h. sie ist während des Betrachtungszeitraums zu- oder weggezogen und entsprechend nicht mehr im Bevölkerungsregister geführt.

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Aus der Vielfalt der Verläufe konnten vier Verlaufstypen gebildet werden:

  1. Persistenter Nichtbezug: Die grösste Gruppe (38%) bilden Menschen, die in mindestens drei von fünf Jahren einen Nichtbezug aufweisen und in den übrigen Jahren nicht armutsbetroffen waren.
  2. Situativer Nichtbezug: Ein solcher liegt vor, wenn Menschen in ein oder zwei Jahren nichtbeziehend waren und in den übrigen Beobachtungsjahren finanzielle Mittel über der Anspruchsschwelle hatten (20%).
  3. Vorübergehender Nichtbezug mit Sozialhilfebezug: Zu dieser Gruppe werden Menschen gezählt, die in mindestens einem Jahr Unterstützung der Sozialhilfe bezogen und in mindestens einem Jahr zu den Nichtbeziehenden gehören (21%).
  4. Zu- und Wegzüge: Diesem Typus werden Menschen zugeordnet, die mindestens ein Jahr nicht zur ständigen Wohnbevölkerung des Kantons Basel-Stadt gehörten. Gleichzeitig lag bei ihnen in mindestens einem Jahr ein Nichtbezug von Sozialhilfe vor (21%).

Implikationen für die Praxis

Die Verläufe des Nichtbezuges legen nahe, dass eine recht grosse Gruppe über einen längeren Zeitraum mit sehr wenigen finanziellen Mitteln lebt und dennoch keine Unterstützung durch die Sozialhilfe beansprucht. Während die Anspruchsprüfung bei anderen Bedarfsleistungen – wie beispielsweise den Prämienverbilligungen – vielerorts automatisiert erfolgt oder potenziell Berechtigte mit einem Schreiben informiert werden, ist man in der Sozialhilfe diesbezüglich sehr zurückhaltend. Ob sich jemand für oder gegen den Gang zum Sozialamt entscheidet, liegt letzten Endes in der Entscheidung des Einzelnen. Aus präventiver Sicht wäre es allerdings sinnvoll, wenn sich Menschen in einer Notlage möglichst frühzeitig melden, um so die Verfestigung ihrer Armutslage zu vermeiden. Deswegen scheint es vielversprechend, auch im Kontext der Sozialhilfe vermehrt mit gezielten Informationsschreiben zu arbeiten.

 


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