Dass Missbräuche im Sozialstaat bekämpft werden sollen, ist weitgehend unbestritten. Bei der aktuellen Abstimmung zur Überwachung von Versicherten stellt sich jedoch die Frage nach der Verhältnismässigkeit und einer unbeabsichtigten Abschreckung von Bezugsberechtigen.
Der Abstimmung vom 25. November 2018 dürfte ein emotionaler Abstimmungskampf vorausgehen: Neue gesetzliche Grundlagen sollen es Sozialversicherungen erlauben Observationen durchzuführen, falls sie einen begründeten Verdacht haben, dass jemand unrechtmässig Leistungen bezieht.
Über das «Ob» herrscht weitgehend Einigkeit: Unbestritten ist, dass Missbräuche im Sozialstaat keinen Platz haben und dass die Bekämpfung des Missbrauchs das Vertrauen der Bevölkerung in die sozialen Leistungssysteme stärkt. Observationen sind im Sozialversicherungsrecht denn auch nicht neu, beruhten bisher allerdings auf einer gesetzlichen Grundlage, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2016 in einem Urteil als ungenügend qualifizierte. Wie breit der Konsens zur Missbrauchsbekämpfung ist, zeigt der politische Vorstoss, der den Bundesrat aufforderte, dem Parlament eine hinreichende gesetzliche Grundlage für Observationen vorzulegen. Dieser wurde unmittelbar nach dem Urteil des europäischen Gerichtshofs von allen Bundesratsparteien mitunterzeichnet.
Aufwand und Ertrag halten sich die Waage
Über das «Wie» gehen die Meinungen hingegen auseinander: So wird zu Recht die Frage nach der Verhältnismässigkeit des beschlossenen Überwachungsinstrumentariums aufgeworfen. Dieses kommt den Möglichkeiten gleich, die der Polizei für Ermittlungen bei Gewaltverbrechen zur Verfügung stehen. Die Frage nach der Verhältnismässigkeit knüpft an die Frage nach dem Nutzen-Schaden-Verhältnis an und rückt die Auswirkung der Observationen in den Vordergrund.
Für die Beurteilung der unmittelbaren Wirkungen von Observationen lohnt sich der Blick in die Praxis des Kantons Bern, der 2012 Inspektionen in der Sozialhilfe eingeführt hat. Die Berichterstattung der zuständigen Gesundheits- und Fürsorgedirektion zeigt, dass zwischen 2014 und 2016 knapp 300 Inspektionen abgeschlossen wurden. In rund 45% dieser Fälle erhärtete sich ein Missbrauchsverdacht. In der quantitativen Betrachtung fallen diese Zahlen doppelt bescheiden aus: Zum einen hatten die Sozialdienste des Kantons Bern in weniger als einem Prozent aller Sozialhilfedossiers einen Verdacht, den sie durch eine Sozialinspektion abklären liessen. Zum anderen halten sich die finanziellen Aufwendungen für die Sozialinspektionen und die Rückerstattungssummen in dieser Zeitspanne in etwa die Waage.
Bezugsberechtigte werden ebenfalls abgeschreckt
Die Observationen haben aber auch mittelbare Wirkungen. So sprach der Berner Regierungsrat in seiner Gesetzesvorlage von einer «generalpräventiven Wirkung» der Sozialinspektion. Das Wissen, dass hingeschaut wird, hält Betrügerinnen und Betrüger davon ab, missbräuchlich Sozialhilfeleistungen zu beziehen. Dies mag stimmen. Allerdings dürfte dieses Wissen auch Personen abhalten, welche die Voraussetzungen erfüllen und vollkommen zu Recht Sozialhilfeleistungen beantragen könnten. So wies der Ungleichheitsforscher Oliver Hümbelin in seinen Arbeiten für den Kanton Bern nach, dass ein Viertel der Bezugsberechtigten auf Sozialhilfe verzichten. Die Sozialhilfe-Nichtbezugsquote ist somit das weit grössere Problem, als die Missbrauchsquote von weniger als 1%.
Weiter konnte Hümbelin aufzeigen, dass unterschiedliche soziale Normen in der Stadt und auf dem Land einen Einfluss auf das Bezugsverhalten haben. Und auch wenn es keine quantitative Forschung zu dieser spezifischen Frage gibt, ist es mehr als plausibel, dass gesellschaftliche Diskurse, die den Bezug von Sozialhilfeleistungen in eine kriminelle Ecke rücken, einen Einfluss auf das Anspruchsverhalten haben. Dabei hat die Kriminalisierung des Sozialhilfebezugs im Kanton Bern, wie auch in der restlichen Schweiz, schon fast Tradition: Medial aufgebauschte Einzelfälle, die sämtliche Sozialhilfe beziehenden Personen unter generellen Betrugsverdacht stellten, führten im Kanton Bern 2013 zu einer Volksinitiative, die im Titel Verbrecher und Sozialhilfeempfänger gleichstellte und von 55% der Stimmbevölkerung angenommen wurde.
Wer sich diesen November daran macht, den Stimmzettel zur Observierung im Sozialversicherungsrecht auszufüllen, sollte sich dieser Fakten und den Nebenwirkungen auf das sozialpolitische Klima in diesem Land bewusst sein.
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Literatur und weiterführende Links:
- Bundesrat (2018): Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten
- Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (2016): Case of Vukota-Bojić vs. Switzerland
- Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (2016): Berichterstattung Sozialinspektion, Bern
- Hümbelin, Oliver (2016): Nichtbezug von Sozialhilfe: Regionale Unterschiede und die Bedeutung von sozialen Normen, Universität Bern
- Hümbelin, Oliver; Alder, Martin (2016): Wer wagt es nach Hilfe zu fragen?, knoten & maschen, BFH-Zentrum Soziale Sicherheit, Bern
- Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern (2016): Neue Bestimmungen der Volksinitiative «Keine Einbürgerung von Verbrechern und Sozialhilfeempfängern», Bern
- Santoro, Iwan (2016): Versicherungen dürfen mögliche Betrüger nicht observieren, Schweizer Radio und Fernsehen SRF
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