Steter Tropfen härtet den Stein?

Lange galt in der Gewaltforschung die Überzeugung, dass die psychische Gesundheit umso stärker leidet, je häufiger ein Mensch von widrigen Erfahrungen betroffen ist. Neue Befunde wecken Zweifel daran. Das viel zitierte Phänomen der Resilienz wird auch in der Gewaltforschung empirisch fassbar.

In der Kinder- und Jugendhilfe bestand bis vor kurzem die Gewissheit, dass Gewalterfahrungen, die einem in Kindheit und Jugend zustossen, böse Folgen haben. Das schien fast immer zu gelten und für fast alle Arten von Gewalt. Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Gewalt, Mobbing in der Schule, Miterleben häuslicher Gewalt: Studien belegten zuhauf, wie schädlich das alles sei, wie belastend für die weitere Entwicklung der Betroffenen. Depressive Zustände, Ängste, Konzentrationsschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, selbstverletzendes Verhalten: All das und einiges mehr schien als Folge nahezu unvermeidlich mit solchen Gewalterfahrungen verknüpft.

Dann kam David Finkelhor.

Der amerikanische Soziologe von der University of New Hampshire zeigte nicht etwa, dass Gewalterfahrungen harmlos sind. Aber er führte vor, dass die meisten Forschenden einen entscheidenden Fehler begangen hatten: Sie untersuchten jeweils nur eine Gewaltform und schrieben das ganze Ausmass an psychischen und sozialen Auffälligkeiten, das in Langzeitstudien statistisch mit ihr verknüpft war, ursächlich dieser einen Form zu.

Eine Gewaltform tritt selten alleine auf

Problematisch daran ist: Wer eine Form von Gewalt erfährt, erfährt mir hoher Wahrscheinlichkeit auch eine andere. Körperliche, emotionale und sexuelle Gewalt treten selten einzeln und isoliert auf. Deshalb lässt sich der Zusammenhang zwischen Gewalt und ihren Folgen nur zuverlässig beschreiben, wenn man das ganze Spektrum an Gewaltformen miterhebt und analysiert.

Das scheint banal. Nur hatten vor David Finkelhor alle drüber hinweggesehen.

Die Untersuchungen Finkelhors und seiner Ko-Autoren legen nahe, dass die langfristigen Folgen einzelner Gewalterfahrungen im Mittel so schwerwiegend nicht sind, wie man anzunehmen geneigt war, solange man sich auf Studien zu einzelnen Gewaltformen konzentrierte. Wir wollten wissen, ob sich diese Befunde in einer Studie mit Schweizer Jugendlichen bestätigen würden. Die Daten unserer Analyse stammen aus einer gesamtschweizerischen Erhebung aus dem Jahr 2010. Befragt wurden rund 6‘700 Jugendliche im neunten Schuljahr, aus 23 von 26 Kantonen. Erhoben wurden das Ausmass, in dem die Jugendlichen in ihrem bisherigen Leben unterschiedliche Formen von Gewalt und Vernachlässigung erfahren hatten, sowie ihr psychisches und soziales Funktionsniveau.

Der wichtigste Befund: Finkelhors Befunde hielten der Überprüfung stand.

Die aus unserer Sicht interessantesten Ergebnisse unserer Studie liegen jedoch anderswo. Sie betreffen das Konzept der Resilienz. Dehnt man den Begriff, als wäre er Kaugummi, dann meint Resilienz ganz allgemein die Fähigkeit eines Individuums, trotz widriger Lebenserfahrungen gesund und aufrecht zu bleiben. Im engeren, trennschärferen Sinn jedoch bezeichnet Resilienz nur denjenigen Teil unserer Widerstandsfähigkeit, den wir uns durch die Bewältigung früherer Belastungen erworben haben. Das ist das, was Nietzsche im Sinn hatte, als er schrieb: «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.»

In bisherigen Untersuchungen zu den unterschiedlichen Typen von Gewalt wurde immer wieder festgestellt, dass mehr mehr ist: Mehr Vorfälle von Gewalt führen zu mehr Anzeichen der Belastung. Dabei wurde aber nicht berücksichtigt, dass diejenigen, die von einer bestimmten Gewaltform häufiger betroffen sind, auch ein höheres Risiko haben, zugleich von anderen Formen der Gewalt betroffen zu sein.

Stellen Sie sich vor, Sie wüssten von zwei Personen in Ihrer Bekanntschaft: Die eine wurde in ihrer Jugend einmal heftig verprügelt, die andere immer wieder. Von welcher dieser Personen würden Sie eher annehmen, dass sie zusätzlich weitere Belastungen über sich ergehen lassen musste – wie wüste Beschimpfungen oder sexuelle Zudringlichkeiten? Ihre Intuition tendiert zur zweiten Person, und genau das bestätigen auch die Daten. Das ist nicht überraschend. Bemerkenswert ist, was sich ergibt, wenn man diesen Umstand nun in die Analysen zur Häufigkeit unterschiedlicher Gewalterfahrungen und dem damit einhergehenden Funktionsniveau einbezieht.

Die wesentlichen Ergebnisse dieser Analysen zeigt die untenstehende Tabelle. In der linken Spalte ist die Stärke des Zusammenhangs zwischen der Häufigkeit einer Gewalterfahrung und dem Ausmass emotionaler und sozialer Beeinträchtigung angegeben; unter der Bedingung, dass andere, im selben Zeitraum erlebte Gewaltformen – wie bislang üblich – ausgeblendet werden. Es zeigt sich das typische Muster: Je häufiger die Gewalt, desto stärker die Beeinträchtigung.

In der rechten Spalte sind dagegen die weiteren Gewalterfahrungen mitberücksichtigt und statistisch kontrolliert. Und siehe: Der Häufigkeitseffekt fällt weg – nicht bei der emotionalen Gewalt, wo mehr weiterhin mehr ist, wohl aber bei der körperlichen und der sexuellen Gewalt.

Tabelle: Abhängigkeiten psychosozialer Funktionsniveaus zu Gewalterfahrungen

Die Zahlen zum psychosozialen Funktionsniveau geben den Zusammenhang zwischen dem Funktionsniveau und der jeweiligen Gewalterfahrung an. Höhere Zahlen verweisen auf einen stärkeren Zusammenhang.

Das Haupt der Resilienz

Eine naheliegende Interpretation ist, dass es mehrfach Betroffenen immer besser gelingt, ihre Gewalterfahrungen zu verarbeiten. Damit ist nicht gesagt, dass diese Erfahrungen immer harmloser werden. Es deutet sich lediglich an, dass die Betroffenen in ihrer Widerstandsfähigkeit an den Erfahrungen wachsen und deren Schädlichkeit immer besser zu entschärfen wissen.

Für Forschung und Praxis sind diese Befunde und Thesen bedeutsam. Finkelhors Ergebnisse, die sich in unseren Daten bestätigen, wecken Zweifel an der Ausrichtung von Gewaltprävention und Opferberatung, wie sie heute praktiziert wird. Gegenwärtig überbietet sich die Praxis in der Ausarbeitung hoch spezialisierter Programme, die jeweils nur auf eine Gewaltform fokussieren. Das ist nicht grundsätzlich verkehrt, birgt aber die Gefahr, die Verflechtung der Gewaltformen zu übersehen. Denn am stärksten belastet sind Jugendliche, die gleichzeitig mit unterschiedlichen Gewaltformen konfrontiert sind. In der Entschärfung dieser gebündelten Gewalt sollten sie unterstützt werden. Sonst ähnelt die Intervention einer ärztlichen Behandlung, die einzelne Symptome angeht, statt sie gesamthaft und mit ihren Ursachen in den Blick zu nehmen.

Und die Forschung? Ihr bietet sich die Gelegenheit, die Prozesse der Resilienz endlich genauer zu untersuchen. Was genau tun Jugendliche, die von Gewalt betroffen sind, um diesen Erfahrungen die Spitze zu brechen? Unter welchen Umständen gelingt ihnen das, unter welchen nicht? Welche Voraussetzungen bringen diejenigen mit, die das können, und welche fehlen den anderen? Das Haupt der Resilienz regt sich hier, von dem so viele reden – und das doch wenige bisher zu Gesicht bekamen.

 


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