Spirituelle Begleitung von Menschen in Notlagen

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Wenn jemand in eine gesundheitliche oder soziale Notlage gerät, können Aspekte wie religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit wichtig werden. Dann suchen Betroffene spirituelle Begleitung von Menschen, die ihre Religion praktizieren, ihre Sprache sprechen und ihre kulturellen Hintergründe verstehen. Möglich macht dies seit vier Jahren ein Berner Verein mit seinen multireligiösen Begleitungen und Fortbildungen für Ehrenamtliche.
Raja leidet an einem sich ausbreitenden Lungentumor. Sie ist 63 Jahre alt und vor langer Zeit aus Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet. Die medizinischen Möglichkeiten sind ausgeschöpft und Raja wartet auf die Aufnahme in die Palliativstation. Sie ist von Sorgen geplagt: Wie soll ihre Familie ohne ihre Unterstützung weiterleben? Wer wird für ihren sehr viel älteren Ehemann sorgen und wer ihrer schwangeren Tochter nach der Geburt ihres ersten Kindes helfen? Wer wird ihre Asche zur Bestattung nach Sri Lanka bringen?
Raja ist eine von vielen Patient*innen des Kantons Bern mit einem nicht-christlichen Hintergrund. Bereits in den frühen 2000er Jahren gaben rund 20 Prozent der Patient*innen des Berner Inselspitals an, alevitisch, buddhistisch, hinduistisch, jüdisch oder muslimisch zu sein. Um diesen unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, baute das Seelsorgeteam des Spitals ein Netzwerk mit Ehrenamtlichen verschiedener Religionsgemeinschaften auf. Diese wurden kontaktiert, wenn Patient*innen von einer Person ihrer eigenen religiösen, kulturellen oder sprachlichen Zugehörigkeit begleitet werden wollten. Oftmals kamen die Ehrenamtlichen in Notfallsituationen mitten in der Nacht. Doch dieses System wies erhebliche Mängel auf:
  • Die Ehrenamtlichen waren weder versichert, noch wurden sie für ihre Einsätze vergütet.
  • Sie wurden auf informellem Weg rekrutiert. Es war unklar, nach welchen inhaltlichen und ethischen Kriterien die Begleitung erfolgte.
  • Es gab keine Qualitätskontrolle oder -entwicklung, wie etwa Weiterbildungen oder Supervisionen.
Um den vielfältigen Bedürfnissen der Patient*innen gerecht zu werden und die Qualität der ehrenamtlichen Begleitung zu gewährleisten, musste das bestehende System somit überarbeitet werden. Auch auf politischer Ebene rückte die Betreuung und Begleitung von Menschen nicht-christlichen Glaubens in den Fokus.

Gemeinsame Grundsätze als Ausgangspunkt

Aus diesen Bewegungen erwuchs 2019 ein einzigartiges Projekt, das von der Interkonfessionellen Konferenz (IKK) des Kantons Bern getragen wurde. Unter Einbezug der Spitalseelsorge und des Hauses der Religionen erarbeiteten 16 Frauen und Männern aus sechs verschiedenen Religionsgemeinschaften gemeinsam getragene Grundsätze zur Qualität und Ethik ehrenamtlicher religiöser Begleitung. Im Laufe des Prozesses wurden auch Menschen einbezogen, die sich der grossen Gruppe der Konfessionsfreien zugehörig fühlen. Ausgehend von diesen Grundsätzen wurde eine umfassende Fortbildung entwickelt und der «Verein Multireligiöse Begleitung» ins Leben gerufen.
Der Verein verfolgt das Ziel, dass jede Person die spirituelle oder religiöse Unterstützung erhält, die sie sich wünscht. Abdecken möchten sie mit ihrem Angebot alle Berner Spitäler, Altersinstitutionen, Asylzentren und Gefängnisse. Die Begleitung soll durch Ehrenamtliche geleistet werden, die nicht nur dieselbe Religion praktizieren, sondern auch ihre Sprache sprechen und ihre kulturellen Hintergründe verstehen. Der Verein rekrutiert geeignete Begleitende aus Religionsgemeinschaften, sowie konfessionsfreie Personen, sichert ihre Fortbildung und garantiert die Qualität ihrer Arbeit. Darüber hinaus sorgt der Verein für eine angemessene ehrenamtliche Entschädigung, koordiniert die Einsätze und entwickelt die angebotene Begleitung kontinuierlich weiter. Finanziert wird der Verein durch die IKK und den Kanton Bern.

Stille und interreligiöser Dialog

Mittlerweile absolvierten 38 alevitische, buddhistische, christlich-orthodoxe, hinduistische, jüdische, muslimische und konfessionsfreie Personen die Fortbildung und sind nun im Kanton Bern als Begleiter*in tätig. Bis Ende Mai 2025 waren sie bereits 636 Mal im Einsatz.
Die Berner Fachhochschule durfte das Angebot letztes Jahr evaluieren. Die Ergebnisse zeigen, dass Religion und Spiritualität eine grosse Ressource für Menschen in schwierigen Lebenslagen darstellen können. Die Kernaufgabe der ehrenamtlichen Begleitenden ist es, religiöse und spirituelle Bedürfnisse der begleiteten Personen wahrzunehmen und zu unterstützen. Zentrale Elemente sind dabei das aktive Zuhören und die Freiheit des Gegenübers, den eigenen Weg zu gehen. Das kann auch zu Momenten der Stille führen. Diese Stille auszuhalten, haben die ehrenamtlichen Begleitenden in ihrer Fortbildung gelernt. Die Bedeutung dieser Fähigkeit wurde von den begleiteten Personen immer wieder hervorgehoben. Eine Person beschrieb es so:
«Es ist schön, dass die Begleitung für jedes Thema offen ist. Selbst wenn wir keine grossen Gespräche führen, ist die Begleitung einfach für einem da. Es ist schön, dass es dieses ganze Spektrum sein kann.»
Die angebotene Begleitung berücksichtigt auch die Vielfalt innerhalb der jeweiligen Religionen, wie etwa die kulturelle und sprachliche Vielfalt von Muslim*innen. Und der Verein richtet sich auch an Personen, die nicht Mitglied einer religiösen Institution sind – z.B. an Jüd*innen, die nicht Mitglieder einer Jüdischen Gemeinde sind und deren sozialarbeiterischen Angebote nicht in Anspruch nehmen können. Weiter wird die Begleitung auch konfessionsfreien Personen angeboten, die sich in einer schwierigen Situation spirituelle Unterstützung wünschen.
Die Besuche in Institutionen können zudem zu Begegnungen der Begleiter*innen mit weiteren Personen wie Bett- oder Zimmernachbar*innen führen. Dabei stellen diese Fragen zu den ihnen unbekannten religiösen Traditionen. Dieser interreligiöse Dialog führt zu intellektuellen Bereicherungen, neuen Perspektiven auf die eigene Spiritualität oder Verbindungen zur anderen Religion. So zeigte ein christlicher Patient grosses Interesse an den Liedern, die ein hinduistischer Begleiter für den Bettnachbarn sang und wünschte sich, dass auch für ihn eine solche Zeremonie durchgeführt wird.

Gemeinsame Räume gegen die Polarisierung

Die multireligiöse Begleitung im Kanton Bern ist ein Leuchtturm des interreligiösen Dialogs. Dank der Fortbildung, dem regelmässigen multireligiösen Austausch und der Supervisionen bleiben die Begleitenden und deren Gemeinschaften im ständigen Kontakt. Begleiter*innen, die bisher unbezahlte Care Arbeit übernommen haben, können nun vergütet, unterstützt und vernetzt werden. Zudem fördert der Verein die Sensibilisierung für die Lebensrealitäten und Belange verschiedener Religionsgemeinschaften. Gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung ist es von zentraler Bedeutung, gemeinsame Austausch-, Erfahrungs- und Reflexionsräume zu pflegen. Dazu leistet der Verein Multireligiöse Begleitung einen wichtigen Beitrag.

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