Sozialhilfe: Eine Dossierreduktion erhöht den Beratungserfolg

Je mehr Sozialhilfefälle eine Beraterin oder ein Berater bearbeitet, umso weniger Energie fliesst in die Behandlung des einzelnen Falls. Die Stadt Winterthur liess nun überprüfen, wo Sozialarbeitende die freien Zeitressourcen bei einer Reduktion der Falllast einsetzen und wie sich dies auf den Beratungserfolg auswirkt.

Bei der Sozialberatung der Stadt Winterthur ist in den letzten Jahren die Anzahl bearbeiteter Dossier pro Sozialarbeiter/in stetig gewachsen. Im März 2017 betrug die sogenannte Falllast 143 Fälle pro Vollzeitstelle. Dies ist nicht alleine auf einen verstärkten Zulauf zur Sozialhilfe zurückzuführen, sondern lässt sich unter anderem durch eine geringere Ablösung und eine wachsende durchschnittliche Bezugsdauer erklären. Angesichts der steigenden Falllast bewilligte die Stadt Winterthur im Dezember 2014 drei zusätzliche Vollzeitstellen. Daraufhin wurden drei bisherige Sozialarbeitende der Langzeitberatung ausgelost, welche während einer 18-monatigen Versuchsphase mit einer maximalen Falllast von 75 Fällen pro Vollzeitstelle arbeiteten. Ein Forschungsteam des Instituts Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW begleitete das Pilotprojekt und prüfte, welche Auswirkungen eine Fallreduktion auf die Fallkosten hat. Weiter wurde untersucht, ob mit einer tieferen Falllast Klientinnen und Klienten besser beraten und vermehrt integriert werden können. Im qualitativen Teil der Studie wurde anhand von regelmässigen Gruppen- und Einzelinterviews analysiert, wie die drei Sozialarbeitenden der Experimentalgruppe mit einer tieferen Falllast die zusätzlichen Zeitressourcen einsetzen.

Vertiefte Abklärungen

Die Experimentalgruppe legte den Schwerpunkt auf ältere, brachliegende Fälle und rollten diese neu auf. Ein weiterer Fokus wurde auf die Vorbereitung der Erstgespräche bei Neuaufnahmen gelegt, welche für den weiteren Fallverlauf richtungsweisend sind. Zudem konnte mit den zusätzlichen Zeitressourcen ein Vorgehen etabliert werden, das stärker auf einer partnerschaftlichen Lösungsfindung, prozesshaften Handlungen und einer konstanten Wirkungsanalyse basiert. Eine vertiefte Abklärung erwies sich, so die Einschätzungen der befragten Sozialarbeitenden der Experimentalgruppe, insbesondere bei komplexen Problemkonstellationen als hilfreich. Allerdings führe ein besseres Fallverständnis nicht zwingend zu einer Zunahme von Massnahmen. Vielmehr werde der Aspekt der Nachhaltigkeit in den Fokus gerückt: Ergebnislose Massnahmen würden zeitnah beendet, Widerstände vonseiten der KlientInnen besser verstanden und langfristige Massnahmen laufend justiert. Zudem konnten folgenreiche Problemdynamiken frühzeitig antizipiert und durch gezielte Massnahmen beeinflusst werden. Ein vertieftes Fallverständnis begünstigte also gezielte Interventionen und unter dem Strich kostengünstigere Lösungen.

Kontinuierliche Fallarbeit

Erfolge in der Fallarbeit erfordern Kontinuität. Passive Phasen und grössere Wartezeiten hingegen wirken gemäss Aussagen der befragten Sozialarbeitenden kontraproduktiv. Sie erachteten dieses «Dranbleiben» insbesondere bei Klientinnen und Klienten mit einer hohen arbeitsmarktlichen Anschlussfähigkeit und bei Personen mit einer Mehrfachbelastung – wie z.B. gesundheitliche Beschwerden, Schulden, Arbeitslosigkeit und soziale Isolation – als zentral. Eine hohe Beratungsfrequenz erhöhte ihrer Ansicht nach auch die Verbindlichkeit des vereinbarten Vorgehens. Die zusätzlichen zeitlichen Ressourcen sorgten für mehr Verlässlichkeit und Ruhe in der Beziehung zu den Klientinnen und Klienten sowie für mehr Spielraum in der Gestaltung eines passenden Beratungssettings. Eine Folge davon sei eine deutlich reduzierte Anzahl akuter ad-hoc-Interventionen, was wiederum Zeitressourcen freispiele und den regulären Berufsalltag beruhige. Die Möglichkeit, die Beratungsfrequenz kurzfristig zu erhöhen, erlaubte den Sozialarbeitenden der Experimentalgruppe zudem eine flexible Reaktion bei einem plötzlich erhöhten Unterstützungsbedarf – z.B. bei Aussicht auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt.

Verbesserte Kooperation

Gemäss Aussagen der Experimentalgruppe wurden in der Phase der reduzierten Falllast zudem weniger Auflagen und Sanktionen ausgesprochen. Gleichzeitig erhöht sich der Anspruch an die Sozialarbeitenden, eine Auflage zu begründen und zu überprüfen. Die engere Begleitung und die verbesserte Kooperation beuge Missverständnissen vor und erlaube es, Interventionen und Massnahmen gemeinsam auszuhandeln, so die Einschätzung der befragten Sozialarbeitenden. Die erhöhte Erreichbarkeit der Experimentalgruppe erlaubte auch eine proaktive Klärung von Konflikten und Missverständnissen. Insgesamt war es den Sozialarbeitenden möglich, den Lead in der Fallführung wieder besser wahrzunehmen, der Rolle als Verantwortliche gerechter zu werden und in der Zusammenarbeit mit anderen Fachstellen auch entsprechend aufzutreten.

Professionellere Sozialberatung

Die befragten Sozialarbeitenden der Experimentalgruppe vertraten die Ansicht, dass fehlende zeitliche Ressourcen die Möglichkeit beeinflusse, eigene professionelle Kompetenzen einzubringen. Bei einer hohen Falllast führe eine beschränkte Fallkenntnis oftmals dazu, dass bestimmte Verhaltensweisen schwer eingeordnet werden könnten und aufgrund der unklaren Auswirkungen auf eine Intervention verzichtet würde. Die reduzierte Falllast bedeute in dieser Hinsicht eine Rückkehr zum professionellen Selbst- und Rollenverständnis der Sozialarbeitenden, einschliesslich der erlernten Fach- und Methodenkompetenzen. Die Sozialarbeitenden mit einer reduzierten Falllast äusserten insgesamt eine höhere berufliche Zufriedenheit, sowohl im Vergleich zur Zeit vor dem Pilotprojekts als auch zu Arbeitskolleginnen und -kollegen mit einer hohen Falllast.

Verbessertes Kosten-Nutzen-Verhältnis

Generell kann festgestellt werden, dass Bereiche der persönlichen Hilfe bei der Experimentalgruppe wieder mehr ins Blickfeld gerieten, was auch dem gesetzlichen Auftrag der Sozialhilfe entspricht. Dazu kommt, dass sich die engere und intensivierte Fallführung auch vorteilhaft auf die Kosten-Nutzen-Analyse auswirkt. Sowohl die Ablösequote als auch die Fallkosten konnten gegenüber der Kontrollgruppe positiv beeinflusst werden, so dass die höheren Personalkosten bei einer Falllastbeschränkung auf 75 Fälle pro Vollzeitstelle mehr als aufgewogen werden.

 


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