Soziale Gerechtigkeit als Leitidee der Sozialhilfe

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Bergsteiger retten einen Kollegen

Soziale Institutionen wie die Sozialhilfe müssen regelmässig den sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden. Dies geschieht meist unter dem Druck des Faktischen. Soziale Institutionen sind aber auch Ausdruck von ethisch-normativen Grundideen, die nicht verraten werden dürfen. Gerade wenn der politische Druck zunimmt, ist es wichtig, sich dieser Grundideen zu vergewissern.

Sozialhilfe ist ein Anspruch der sozialen Gerechtigkeit. Auf Sozialhilfe haben diejenigen Personen Anspruch, welche zeitweise oder längerfristig nicht selbständig für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Die Gesellschaft lässt auch diese Menschen an ihrem Wohlstand teilhaben. Die Ansprüche bemessen sich danach, was soziale Gerechtigkeit als gegenseitige Ansprüche und Leistungen der Mitglieder einer Gesellschaft beinhaltet. Dieser Artikel skizziert einen Vorschlag, was soziale Gerechtigkeit konkret beinhaltet und was dies für das staatliche System der Sozialhilfe bedeutet.

Am Anfang jeder Gesellschaft steht Kooperation

Wesensmerkmal von Gesellschaften ist die Kooperation von autonomen Personen. Kooperation verbindet die einzelnen Individuen zu einer Gesellschaft und begründet diese erst. Sie schafft den Wohlstand der Gesellschaft als diejenigen Güter, welche den Menschen ein gutes und eigenständiges Leben ermöglichen. Um dieser Güter willen kooperieren die Individuen vernünftigerweise miteinander. Gesellschaftliche Kooperation bedeutet, dass Individuen einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und gleichzeitig gemeinschaftliche Güter geniessen. Kooperation ist notwendig, weil die Güter für das Überleben und mit grösserem Wohlstand die Güter für ein gutes Leben in der Welt nicht bereit stehen, sondern erschaffen werden müssen.

Hier stellt sich die ethische Frage, welche berechtigten Ansprüche an den Wohlstand der Gesellschaft ihre Mitglieder haben und welchen Beitrag sie zu diesem Wohlstand leisten müssen. Eine Gesellschaft mit der richtigen Verteilung von Gütern und Lasten auf die einzelnen Mitglieder ist sozial gerecht. Deshalb spricht man auch von der gerechten und nicht nur von der richtigen Verteilung.

Soziale Gerechtigkeit beinhaltet individuellen Beitrag an die Gemeinschaft

Die in der Kooperation begründete Idee der sozialen Gerechtigkeit versteht die Mitglieder der Gesellschaft als autonome Personen, die nach Möglichkeit einen Beitrag zum Wohlstand der Gemeinschaft leisten und aufgrund und im Rahmen des Wohlstandes der Gesellschaft ihr Leben eigenständig gestalten können. In einer Gesellschaft mit einem Arbeitsmarkt beinhaltet dies die Forderung, dass die erwachsenen, physisch und psychisch dazu fähigen Mitglieder sich um ihren Lebensunterhalt durch Arbeit bemühen, sofern sie nicht Vermögen haben, aus dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. In reichen Gesellschaften erlaubt der durch Arbeit generierte Lebensunterhalt mehr als die Sicherung des individuellen Überlebens. Deshalb beinhaltet die Bestreitung des Lebensunterhalts immer auch einen Beitrag zum Wohlstand der Gesellschaft, welcher in Form von Steuern und Abgaben  geleistet wird. Letztere sind denn auch durch die soziale Gerechtigkeit legitimiert.

Wenn Personen zeitweise oder längerfristig nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen können, dann haben sie im Namen der sozialen Gerechtigkeit Anspruch auf die Unterstützung durch die Gesellschaft, weil sie grundsätzlich als kooperierende Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden. Daraus leitet sich aber die Forderung ab, dass sie sich darum bemühen, tatsächlich einen Beitrag zum Wohlstand der Gesellschaft zu leisten und für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Sie sollen sich also nach Massgabe ihrer Möglichkeiten und im Rahmen der Umstände und Chancen, welche die Gesellschaft bietet, darum bemühen, aus ihrer Abhängigkeit von der Gesellschaft herauszukommen. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit führt nicht zu einer Individualisierung der Behebung von sozialen Notlagen, weil sie neben den individuellen Möglichkeiten der einzelnen Personen auch die Schaffung von gesellschaftlichen Umständen und Chancen, seinen Lebensunterhalte eigenständig zu bestreiten, als wesentliche gesellschaftliche Aufgabe erkennt. Und ein funktionierendes Sozialhilfesystem ist eine dieser Umstände und Chancen.

Zehn Fähigkeiten muss die Gesellschaft ihren Mitgliedern garantieren

Welche Ansprüche an die Gesellschaft haben Menschen, die nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen können? Aus der Leitidee der sozialen Gerechtigkeit folgt, dass sie solche Leistungen erhalten müssen, damit sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkennt werden. Materiell bedeutet dies, dass sie nicht schlechter gestellt werden dürfen als die Menschen, welche den geringsten Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand aufgrund von Erwerbsarbeit haben. Diese Orientierung setzt voraus, dass die Einkommen aufgrund von Erwerbsarbeit und nach staatlicher sozialer Umverteilung gerecht verteilt sind.

Inhaltlich lässt sich dieser Anspruch mit dem Konzept der Befähigung nach Martha Nussbaum objektiv festlegen. Der Befähigungsansatz von Martha Nussbaum bestimmt Ansprüche der sozialen Gerechtigkeit als Fähigkeiten, die jede Person verwirklichen können muss, damit sie ein menschenwürdiges Leben führen kann. Sie argumentiert insbesondere dafür, dass die folgenden zehn Fähigkeiten zu einem menschenwürdigen Leben gehören: (1) ein Leben von normaler Länge zu leben, (2) körperliche Gesundheit, (3) körperliche Integrität, (4) die Ausübung der Sinne, von Vorstellungen und des Denkens, (5) das Erfahren menschlicher Gefühle, (6) praktische Vernunft als die Fähigkeit, sich Vorstellungen über das eigene Gute zu bilden, (7) Beziehungen zu anderen Menschen zu haben, (8) der Umgang mit anderen Lebewesen und mit der Natur, (9) Spiel und Erholung, (10) gestaltenden Einfluss auf die Um- und Mitwelt zu haben, insbesondere politische Partizipation.

Es stellt sich aber auch die Forderung an die Mitglieder der Gesellschaft, dass sie diese Menschen im Sinne von vollständigen Mitgliedern der Gesellschaft in ihren sozialen Kontakten und ihrem sozialen Verhalten anerkennen, sie nicht diskriminieren oder stigmatisieren. Wenn die Sozialhilfe unter politischen Spardruck gerät, sollten sich die Akteure bewusst sein, dass Sozialhilfe ein legitimer Anspruch der sozialen Gerechtigkeit ist, welcher sich an objektivierbaren Massstäben bemisst, und keine Gnadengabe, deren Bemessung dem politischen Urteil unterliegt.

 


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