Auch nach einem positiven Asylentscheid bleibt der Alltag von Geflüchteten durch Erfahrungen von Unsicherheit und Gewalt geprägt. Dies hat schwere Auswirkungen auf ihre mentale Gesundheit. Um dem entgegenzuwirken, bräuchte es die Anerkennung weiterer Schutzbedürfnisse.
Flucht und Gewalt sind eng miteinander verknüpft. Gewalt ist in vielen Fällen der Anlass für Flucht, und Flucht die Möglichkeit, dieser Gewalt zu entkommen. In günstigen Fällen endet die Flucht an einem Ort, der Sicherheit und Schutz bietet. Rechtlich gesehen beschreibt Asyl – der formelle Schutz durch einen Staat – einen Schutzraum. Allerdings ist unklar, wie weitreichend dieser Schutz ist und wodurch er eingeschränkt wird. Ermöglicht Asyl eine Rückkehr zur Normalität, zu einem subjektiv erfüllenden und lebenswerten Alltag? Ist Asyl gleichbedeutend mit Gewaltfreiheit?
Gespräche im Rahmen des laufenden SNF-Projekts «Violent Safe Havens? Experiences and Repercussions of Violence in Refugee Arrival and Settlement» zeigen, dass Gewalt auch dann noch im Alltag geflüchteter Personen präsent ist, wenn ihnen Asyl gewährt wurde. Traumata, sozialer Ausschluss, Rassismus in der Gesellschaft oder Argwohn seitens Behörden sind nur einige Beispiele für Formen erfahrener Gewalt. Asyl bedeutet somit rechtlichen Schutz vor politischer Verfolgung, impliziert aber nicht zwingend ein Leben in Sicherheit und Gewaltfreiheit. Dabei ist es wichtig, Gewalt nicht nur physisch als Zwang, Aggression und das Zufügen von Schmerz zu verstehen, sondern auch Angriffe auf Persönlichkeit, Würde und Selbstwert als gewaltvoll anzuerkennen. Die Geschichte von Shirin veranschaulicht, was solche Formen von Gewalt konkret für anerkannte Geflüchtete und ihre Erfahrungen von Schutz und Sicherheit bedeuten.
Ankunft in einer volatilen «Normalität»
Shirin floh 2015 vom Iran in die Schweiz, da sie als Journalistin und Frauenrechtlerin politisch verfolgt wurde. Nach ihrer Ankunft stellte sie ein Asylgesuch, musste aber zwei Jahre warten, bis sie als Flüchtling anerkannt wurde.
«Das war keine gute Erfahrung. Man hat keine Rechte, man kann keinen Deutschkurs machen. Alles nein, nein, nein. Warten verletzt. Warten kostet.»
Auch nach dem positiven Asylentscheid erlebte Shirin in ihrem Alltag häufig Ausgrenzung und Abwertung.
«Der Respekt fehlt. Irgendwie fühlst du eine Distanz, keine Ehrlichkeit. Die Schweizer*innen lieben die armen Flüchtlinge, die immer ‹danke› sagen. Wo ist Menschlichkeit? Im Dorf, in dem ich lebte, sind die Kühe netter als die Menschen. Wenigstens haben sie mich mit offenen Augen angeschaut.»
In Shirins Erinnerungen an ihre Ankunft in der Schweiz offenbaren sich unterschiedliche Gewalterfahrungen. Dazu zählen die lange Wartezeit auf einen rechtlichen Entscheid, die dadurch erzwungene Passivität und die stereotypisierende Ablehnung, die Shirin durch einen Teil der Bevölkerung erlebt.
Dass ihre beruflichen Qualifikationen nicht anerkannt werden und zahlreiche Bewerbungen unbeantwortet bleiben oder abgelehnt werden, hat schwere Auswirkungen auf Shirins Selbstwertgefühl. Zuweilen verfällt sie in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit.
«Das Schlimmste ist, sich nicht gut genug, nicht mehr fähig zu fühlen. Das macht kaputt. Man denkt: ‹Ich bin nicht mehr gut, bin nicht mehr lebendig›. Nichts macht mehr Sinn. Ich bin weder mit mir selbst, noch mit der Welt oder mit Freunden in Frieden. Dies ist sehr schmerzhaft. Mein Kopf ist immer beschäftigt und funktioniert nicht gut. Ich vergesse alles. Ich habe kein Selbstvertrauen und fühle mich schwach. Diese Wut mag ich nicht. Mein Körper leidet. Ich versuche, normal zu sein, aber es braucht viel Energie, um normal zu bleiben. Daher sage ich oft einfach: ‹Es geht mir gut, danke›. Aber das ist schwierig. Es ist schwierig ohne Stabilität zu leben: Alles ist in Gefahr.»
Ihr Asyl verschafft Shirin rechtlichen Schutz vor politischer Verfolgung in ihrem Herkunftsland. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Rückkehr zur Normalität, sondern ein anhaltender Ausnahmezustand, der psychische und physische Auswirkungen hat. Ein Verlangen nach Sicherheit bleibt.
Nach langer Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Abhängigkeiten und Selbstzweifeln, findet Shirin eine Stelle als Mitarbeiterin in einer Nichtregierungsorganisation. Sie konnte sich von der Sozialhilfe ablösen, was sie als sehr erleichternd beschreibt. Die zweijährige Befristung ihres Arbeitsvertrags erzeugt jedoch eine anhaltende Unruhe.
«Der Stress ist noch da, man kann ihn nicht wegwerfen. Ich versuche damit umzugehen, irgendwie ruhig zu sein. Aber meine Arbeit ist befristet, ich will nicht wieder in diese Situation der Arbeitslosigkeit kommen. Wenn ich beschäftigt bin, spüre ich den Stress, die Unsicherheit weniger. Ich glaube, manche Sachen bleiben ewig in uns. Das bleibt! Man muss lernen, wie man das ertragen kann.»
Anerkennung eines erweiterten Schutzbedürfnisses
Shirins Geschichte veranschaulicht, dass rechtlicher Schutz weder gleichbedeutend mit Sicherheit noch mit Gewaltfreiheit ist. Gewalt bleibt – wenn auch selten in physischer Form – weiterhin eine einflussreiche Kraft im Leben geflüchteter Personen. Sämtliche Herausforderungen, denen Shirin begegnet, stellen sich auch Menschen ohne Fluchterfahrung. Für Geflüchtete bedeuten sie jedoch eine Akkumulation von Stress- und Gewalterfahrungen aus alten und aktuellen Belastungen, welche die Lebensumstände im Asyl deutlich prägen.
Für Geflüchtete ist die Anerkennung des rechtlichen Schutzbedürfnisses ein erster Schritt zu einem Leben in Sicherheit. Um die Sicherheit im Alltag zu fördern, muss die Anerkennung weiter gefasst und das Schutzbedürfnis auf berufliche Qualifikationen sowie persönliche Erfahrungen und Ziele ausgedehnt werden. Dies bedingt unter anderem Angebote in der sozialen Unterstützung und der psychiatrischen Versorgung, welche die mentale Gesundheit geflüchteter Personen stärken. Die Erkenntnisse des Forschungsprojekts können in diese relevanten Praxisbereiche transferiert werden und dort das Verständnis der komplexen Wechselwirkungen von Sicherheit und Gewalt im Fluchtkontext verbessern.
Kontakt:
Projekte und Partner:
- Projektseite «Violent Safe Havens? Experiences and Repercussions of Violence in Refugee Arrival and Settlement»
- Schweizerischer Nationalfonds
Literatur und weiterführende Links:
- Butler, Judith. 2004. Precarious Life : The Powers of Mourning and Violence. London, New York: Verso.
- Farmer, Paul. 2004. “An Anthropology of Structural Violence.” Current Anthropology 45(3): 305–25.
- Galtung, Johan. 1969. “Violence, Peace, and Peace Research.” Journal of Peace Research 6(3): 167–91.
- Scheper-Hughes, Nancy. 2004. “Two Feet Under and a Cardboard Coffin: The Social Production of Indifference to Child Death.” Pp. 275–80 in Violence in War and Peace. An Anthology, edited by N. Scheper-Hughes and P. Bourgeois. Malden, MA: Blackwell Publishers.
- Spivak, Gayatri Chakravorty. 1988. “Can the Subaltern Speak?” Pp. 271–313 in Marxism and the Interpretation of Culture, edited by C. Nelson and L. Grossberg. Urbana: University of Illinois Press.
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