Über die Geschichte von gehörlosen Menschen in der Schweiz und ihre langjährige Emanzipationsbewegung ist wenig bekannt. Ein neues interaktives und frei zugängliches digitales Lernbuch gibt einen breiten Einblick in die Erfahrungen gehörloser Menschen sowie in ihre historischen und aktuellen politischen Anliegen.
Die ausdrückliche rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache steht in der Schweiz bislang aus. Der Bundesrat hatte diese im Herbst 2021 abgelehnt. Nun hat jedoch im Juni dieses Jahres eine grosse Mehrheit des Nationalrats eine Motion der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur angenommen, welche erneut die Anerkennung der drei Schweizer Gebärdensprachen durch ein entsprechendes Gesetz fordert. Die Motion liegt nun beim Ständerat. Ihre Annahme würde ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung der Identität und Kultur gehörloser Menschen bedeuten.
Die gehörlosen Menschen in der Schweiz kämpfen seit Jahrzehnten gegen ihre Diskriminierung. Die Hintergründe dieses Emanzipationskampfes sind kaum bekannt. Welche grundlegenden Rechte ihnen verwehrt wurden, wurde bisher wenig erforscht. Daher gehört die Aufarbeitung der Geschichte gehörloser Menschen und die Entschuldigung für vergangenes Unrecht zu den zentralen Forderungen der nationalen und internationalen Gehörlosenbewegung. In der Schweiz entschuldigten sich die Gehörlosenschulen und der Hörbehindertenverband Sonos jüngst dafür, dass das Erlernen der Lautsprache und die «orale Methode» in Gehörlosenschulen bis in die 1970er Jahre von meist hörenden Pädagog*innen forciert und die Gebärdensprache diskriminiert wurde. Dies hatte gravierende Folgen für gehörlose Menschen. Viele von ihnen zählen denn auch zu den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.
Ein Lehrbuch, um die Position der Gehörlosen zu stärken
Das kürzlich erschienene digitale Lernbuch «Recht auf Gebärdensprache: Emanzipationsbewegung der Gehörlosen» vermittelt die Geschichte der Gehörlosebewegung der Schweiz seit den 1980er Jahren nun auf interaktive Art und Weise. Es geht unter anderem der Frage nach, welche Bedeutung das «UNO-Jahr der Behinderten» 1981 für die schweizerische Gehörlosenbewegung hatte und weshalb zehn Jahre später gehörlose Menschen in der Schweiz auf die Strasse gingen. Es zeigt, mit welchen Diskriminierungserfahrungen gehörlose Menschen konfrontiert waren und leuchtet ihre Anerkennungskämpfe aus. In Interviews und ausgewählten Quellen geben gehörlose Menschen Einblick in ihre bisher wenig bekannte Geschichte. Sie berichten darüber, wie sie sich als Kinder und Jugendliche einsam fühlten, da ihr soziales Umfeld nur lautsprachlich kommunizierte. Sie erklären, weshalb sie sich für die Gebärdensprachen einzusetzen begannen, wie wichtig ein internationaler Austausch war und weshalb es ein Teil der gehörlosen Menschen ablehnt, als «Menschen mit Behinderung» bezeichnet zu werden. Diese argumentieren vielmehr, sie kommunizierten einfach in einer anderen Sprache, nämlich der Gebärdensprache.
Mit dem Lernbuch «Recht auf Gebärdensprache» stehen die Forschungsergebnisse zur Gehörlosengeschichte der Öffentlichkeit, Studierenden und Fachkräften der Sozialen Arbeit und Mitgliedern der Gehörlosencommunity sowie Interessierten didaktisch aufbereitet frei zur Verfügung. Es vermittelt die Perspektiven von sozial marginalisierten Menschen, rückt ihre Positionen in den Mittelpunkt und regt so die wichtige Auseinandersetzung an, wie mit Menschen mit Beeinträchtigung umgegangen wurde und wie ihre Rechte in Zukunft gestärkt werden können.
Recht auf Gebärdensprache: Emanzipationsbewegung der Gehörlosen
Das auf der Open Educational Resources-Plattform «Virtuelle Akademie» veröffentlichte Lernbuch umfasst drei Teile:
- In zwei Filmen berichten Gehörlosenaktivist*innen über ihr langjähriges Engagement.
- Ausgewählte schriftliche Quellen nehmen die Lesenden mit auf eine historische Reise zu den Anfängen der Emanzipationsbewegung seit den 1980er Jahren bis hin zu den bestehenden Diskriminierungen in der Gegenwart.
- ein Quiz lässt Wissbegierige die gewonnenen Erkenntnisse spielerisch reflektieren.
Das Lernbuch basiert auf Ergebnissen des Forschungsprojektes «Integriert oder ausgeschlossen? Die Geschichte der Gehörlosen», das am Historischen Institut der Universität Bern im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» (NFP 76) entstand. Es wurde in Zusammenarbeit der Universität Bern und der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit entwickelt.
Kontakt:
- Dr. Sonja Matter, Senior Researcher und Lecturer, Historisches Institut, Universität Bern
- Annina Tischhauser, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Soziale und kulturelle Vielfalt
Projekte und Partner:
- Recht auf Gebärdensprache – Virtuelles Lernbuch, Virtuelle Akademie
- Integriert oder ausgeschlossen? Die Geschichte der Gehörlosen
- Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS
Artikel und Berichte:
- Blaser, Vera und Sonja Matter (in Erscheinung): Die Formation eines politischen Subjektes. Die Emanzipationsbewegung der Gehörlosen in der Schweiz im ausgehenden 20. Jahrhundert, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebenslaufanalysen.
- Blaser, Vera und Rebecca Hesse (2021): Sehen statt Hören – Die Fernsehsendung für Gehörlose als ein Stück Emanzipationsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2021/3, S. 95-107.
- Matter, Sonja (2021): Die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache, in: Geschichte der Gegenwart, 24. Oktober 2021.
- Turcan, Ayse (2021): Ein wichtiges Zeichen war die Entschuldigung, in: Wochenzeitung WOZ, 14. Oktober 2021, S. 7.
Literatur und weiterführende Links:
- Gebhard, Michael (2007): Hören lernen – Hörbehindert bleiben. Die Geschichte von Gehörlosen- und Schwerhörigenorganisationen in den letzten 200 Jahren. Baden.
- Häne, Barbara, Katrin Müller und Anina Zahn (2021): Zeichen setzen. 75 Jahre Schweizerischer Gehörlosenbund. Zürich.
- Hesse, Rebecca, Alan Canonica, Mirjam Janett, Martin Lengwiler und Florian Rudin (2020): Aus erster Hand. Gehörlose, Gebärdensprache und Gehörlosenpädagogik in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich.
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