Polnische Sozialpolitik: Zwischen Tradition und Wirtschaftswachstum

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Die Akademia Pedagogiki Specjalnej im. Marii Grzegorzewskiej ist eine der wichtigsten Adressen für Soziale Arbeit in Polen; Foto: Tobias Fritschi

Polen war unserem Autoren bislang vor allem als das Land mit der ältesten Verfassung in Europa bekannt. Gerade deshalb beschloss er das Land zu bereisen und dessen Sozialsystem genauer anzuschauen. Dabei merkte er rasch, dass dort einige Dinge anders laufen.

Ausgerüstet mit einem zweiwöchigen Sprachkurs in Polnisch hatte ich während meines zweimonatigen Aufenthalts in Polen die Gelegenheit, mich mit der Sozialpolitik dieses Landes im Osten der Europäischen Union näher zu beschäftigen. Dabei konnte ich auch zwei Sozialdienstleitende in Kołobrzeg und Gniezno interviewen – zwei kleineren Städten mit 50 bis 70’000 Einwohnenden im Norden bzw. der Mitte des Landes.

Thematische Breite und freiwillige Beratung

Das «Zentrum für Soziale Dienstleistungen» von Kołobrzeg ist wie die meisten Sozialdienste in Polen polyvalent ausgerichtet. Es erbringt nicht nur Leistungen für Armutsbetroffene, sondern auch für Familien, Senior*innen und Menschen mit Behinderungen. Der Neuausrichtung dieses Sozialdiensts ging eine wissenschaftliche Analyse der Bedürfnisse und Potenziale der lokalen Gemeinschaft voraus. Die Leistungen der Sozialhilfe sind materiell gesehen knapp gehalten: für einen Mehrpersonenhaushalt 600 Złoty (umgerechnet 132 CHF) pro Monat und Person und für einen Einpersonenhaushalt 776 Złoty (171 CHF). Diese Beträge werden aber durch weitere Finanzleistungen für Kinder, Wohnung und Gesundheitsleistungen ergänzt.

Die Sozialhilfeberatung ist in Polen freiwillig und richtet sich nicht ausschliesslich an Bezüger*innen. In einem Drittel der Fälle erfolgt die Beratung ohne finanzielle Unterstützung und von den unterstützten Fällen nimmt die Hälfte eine Beratung in Anspruch. Die Integration in den Arbeitsmarkt findet primär durch vorgelagerte Arbeitsämter und Integrationsprogramme statt.

Traditionelle Werte in der Sozialpolitik

Für die polnische Sozialpolitik ist die Familienpolitik zentral. So werden seit rund zehn Jahren die Unterstützungsleistungen für Familien von den beiden Regierungsparteien regelmässig ausgebaut. Die Bürgerplattform «Platforma Obywatelsaka» PO führte 2014 eine einjährige bezahlte Elternzeit ein. Nach dem Regierungswechsel führte die Partei «Prawo i Sprawiedliwość» PiS – zu deutsch «Recht und Gerechtigkeit» – im Jahr 2015 ein bedingungsloses Kindergeld ein, das am Ende ihrer Regierungszeit 800 Złoty (176 CHF) betrug. Die aktuelle Regierung der PO setzt dies weiterhin um und führte zusätzlich das sogenannte Omageld ein, das Grosseltern zugute kommt, die ihre Enkelkinder betreuen. Wie der Name Omageld sagt, sind die Unterstützungsleistungen für Familien stark auf das traditionelle Rollenbild der Frau ausgerichtet.

Der Ausbau der familieneränzenden Betreuungsstrukturen wird dagegen stiefmütterlich behandelt. Nur knapp 13 Prozent der Kinder unter drei Jahren besuchten im Jahr 2023 eine Kindertagesstätte. Im Bereich der Drei- bis Sechsjährigen sind es gut 60 Prozent. Beide Werte liegen am unteren Rand der EU-Rangliste. Auch die Betreuung älterer Menschen durch die Familie wird stark gefördert.

Das Kindergeld leistet einen grossen Beitrag zur Armutsbekämpfung. So konnte die Armutsgefährdung der Kinder zwischen 2012 und 2021 von 23 Prozent auf 14 Prozent gesenkt werden. Zum Vergleich: In derselben Zeitspanne hat sich in der Schweiz die Armutsgefährdung von Kindern von 16 Prozent auf 18 Prozent erhöht. Nicht Personen mit Kindern, sondern alleinstehende Frauen zwischen 40 und 70 Jahren sind daher von einem erhöhten Sozialhilferisiko betroffen. Die Geburtenrate hat sich seit der expansiven Familienpolitik jedoch nicht erhöht, 2023 lag sie mit 1.2 unter dem europäischen Durchschnitt (1.4 Kinder pro Frau).

Gestiegener Mindestlohn und hohe Lohnungleichheit

Unter der PiS-Regierung wurde im Jahr 2024 auch der Mindestlohn stark erhöht: von 2’900 Złoty auf 4’000 Złoty (880 CHF). Gemäss der Sozialdienstleiterin von Gniezno sind viele Arbeitnehmende in Polen zum Mindestlohn angestellt – so beträgt der Medianlohn der ukrainischen Geflüchteten beispielsweise genau 4’000 Złoty. Der Medianlohn aller Arbeitnehmenden liegt bei rund 7’700 Złoty (1’694 CHF) pro Monat – beinahe das Doppelte des Mindestlohns. Seit dem Eintritt in die EU 2004 sind die Einkommen um rund das Doppelte gestiegen, was dazu führte, dass die hohe Lohnungleichheit etwas abnahm. Im EU-Vergleich hatte Polen über die letzten 20 Jahre ein sehr starkes Wirtschaftswachstum und die Erwerbslosenquote lag im Januar 2025 bei 2.6 Prozent – der tiefste Wert in der EU und auch tiefer als in der Schweiz (4.5 Prozent).

Die grosse Anzahl ukrainischer Geflüchteter wird in Polen zwar als Herausforderung für den Staat und die Gesellschaft, aber als grosse Chance für die Wirtschaft wahrgenommen. Die Beschäftigungsquote bei den Geflüchteten beträgt mittlerweile 69 Prozent und es lässt sich ein positiver Effekt auf das Wirtschaftswachstum nachweisen.

Mängel und Vorzüge des Systems

Die hohe Inflation in den Jahren 2022 und 2023 von jährlich über 20 Prozent war für die Sozialdienste eine der grössten Herausforderungen der letzten Zeit. Da die ohnehin niedrigen Bezugsrichtlinien für Sozialhilfe nicht erhöht wurden, rückte das Sozialhilfeniveau teilweise unter den Bereich der extremen Armut.

Da die Leistungen für die Sozialhilfebeziehenden auf Basis eingereichter Quittungen ausbezahlt werden, können diese sich viele Güter nicht leisten, die für Schweizer Sozialhilfebeziehende finanzierbar sind: etwa ein Haustier, ein Handy, Tabakwaren, auswärts essen. Primär werden Nahrungsmittel, Kleidung und Energieausgaben abgerechnet. Unter dem Aspekt der Befähigung ist diese materielle Ausstattung kritisch zu betrachten. Für Eltern kommt allerdings das Kindergeld hinzu, welches nicht in die Berechnung des Sozialhilfeanspruchs einbezogen wird.

Mit der Sozialdienstleiterin in Gniezno konnte ich mich auch über operative Aspekte unterhalten. So liegt die Fallbelastung in Polen bei rund 40 Fällen pro Mitarbeiter*in, während es in der Schweiz 70 bis 100 Fälle sind. Interessant scheint auch der polyvalente Anspruch, dass sich ein «Zentrum für Soziale Dienstleistungen» nicht nur an Armutsbetroffene richtet. Während des Kommunismus gab es Sozialberatung nur im Rahmen der Gesundheitsversorgung, da materielle Armut offiziell nicht existierte. Nach der Wende und der wirtschaftlichen Öffnung ergab sich eine verstärkte Zusammenarbeit mit privaten Trägerorganisationen – beispielsweise im Bereich der Begleitung von Menschen mit Behinderungen. Die Armutsbekämpfung wurde zum Kernanliegen der neuen Sozialhilfezentren.

Die seit 2023 regierende Bürgerplattform strebt nun eine Ausweitung der Dienstleistungen für die ganze Bevölkerung an. Durch die Wahl des neuen Präsidenten aus der PiS-Partei ist kein Richtungswechsel in der Sozialpolitik zu erwarten, die grossen Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und Präsident bestehen in aussenpolitischen und staatsrechtlichen Fragen.

 


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