Seit rund einem Jahr ist im Kanton Zürich ein Gesetz in Kraft, das Menschen mit einer Behinderung mehr Freiheiten im Bereich Wohnen gibt. Mittels Voucher können Sie nun selbst die Begleitung und Betreuung in ihrem privaten Zuhause wählen. Welche Beratungsangebote sind dafür nötig? Dies hat die BFH gemeinsam mit Interface untersucht.
SEBE, so heisst das mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz (SLBG) eingeführte Finanzierungssystem des Kantons Zürich, abgeleitet von «selbstbestimmt entscheiden». Es stärkt im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Seit dem 1. Januar 2024 unterstützt es Menschen mit Behinderung in einer eigenen Wohnung, in einer Wohn- oder Familiengemeinschaft – und auch weiterhin Menschen, die in einer Institution leben. Dabei erhalten Menschen mit Behinderung nach einer Bedarfsabklärung einen Voucher, dank dem sie selbst entscheiden können, welche Anbietenden sie zuhause begleiten und betreuen sollen. Das können ambulante Anbietende, aber auch Bezugspersonen aus ihrem Umfeld sein.
Sinn und Zweck der Beratungen
Der Systemwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung ist herausfordernd. Dabei spielen Beratung und Beratungsstellen eine zentrale Rolle, da sie Menschen mit Behinderungen den Zugang zu bedarfsgerechten Leistungen erleichtern und ihren Umgang damit unterstützen. Das Ziel ist es, diese Personen bei allen Fragen rund um das neue Finanzierungssystem zu begleiten, ihre Entscheidungsfähigkeit zu fördern und eine selbstbestimmte Auswahl von Leistungen zu ermöglichen.
Vorgehen und Methode
In der Studie der BFH und Interface Politikstudien wurde der Beratungsbedarf der verschiedenen Stakeholder bezüglich des neuen Systems SEBE analysiert. Im Rahmen der Studie wurden zehn Leitfadeninterviews mit Expert:innen aus Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen geführt. Zudem nahmen 40 Beratungsstellen an einer Online-Befragung teil. Mit Experti:nnen aus eigener Erfahrung und Angehörigen wurden acht Interviews durchgeführt, wobei die Befragten zwischen 32 und 70 Jahre alt waren und unterschiedliche Arten der Beeinträchtigung haben.
Auf Grund dieser unterschiedlichen Perspektiven wurde der zukünftige Beratungsbedarf (SOLL) im neuen System ermittelt, mit dem aktuellen Angebot (IST) verglichen und daraus Empfehlungen abgeleitet. Während der Erhebung hatten die Befragten noch wenig Kenntnisse zum System SEBE, da die Ausgestaltung des Systems zeitgleich zu der Erhebung stattfand. Die Ergebnisse der Studie sind daher als formativer Beitrag zur Weiterentwicklung der Beratungsangebote im Kanton Zürich im Zusammenspiel mit dem System SEBE zu verstehen.
Angebot und Bedarf bezüglich Beratungsstellen
Vor der Einführung von SEBE wurde die Landschaft der Beratungsstellen von den Expert:innen aus den Organisationen überwiegend positiv beurteilt. Zu den Stärken zählen die Vielfalt, Professionalität und die fundierten Fachkenntnisse der Beratungsstellen. Allerdings gibt es Schwächen, insbesondere bei der Übersichtlichkeit und es fehlen zentrale Anlaufstellen, die Orientierung bieten und Versorgungslücken erkennen. Zudem gibt es Verbesserungspotenzial bei der Niederschwelligkeit und der Nähe zur Lebenswelt der Ratsuchenden.
Expert:innen aus eigener Erfahrung und Angehörige stellen ähnliche Anforderungen an die Beratungsstellen. Ein ideales Beratungsangebot erfordert geografische Erreichbarkeit, Niederschwelligkeit und Flexibilität bei der Terminvereinbarung – etwa über Telefon, E-Mail, Videocall oder als «Walk-in» ohne Voranmeldung. Die Beratungsformen müssen individuell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten sein. Zeitliche Flexibilität und die Option, eine Begleitperson mitzubringen, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Peer-Beratung bietet durch Erfahrungen auf Augenhöhe und praxisnahe Lösungen eine wertvolle Unterstützung.
Spannungsfelder
Beim Übergang der Beratungsangebote vom IST-Zustand in den angestrebten SOLL-Zustand treten Spannungsfelder auf, die durch verschiedene Zielkonflikte geprägt sind:
- Erstens besteht ein Spannungsfeld zwischen Professionalisierung und Peer-Beratung. Hier gibt es einen Zielkonflikt zwischen der Sicherstellung hoher fachlicher Qualifikationen und der Peer-Beratung, bei der Menschen mit Behinderungen ohne formelle Ausbildungsanforderungen ihre Erfahrungen weitergeben.
- Zweitens gibt es ein Spannungsfeld bei der Balance zwischen Kontrolle und Offenheit. Einerseits muss die Qualität der Beratungsstellen gesichert werden, andererseits muss das SEBE-System Menschen mit Behinderungen die Freiheit geben, selbst zu entscheiden, welche Beratung und Unterstützung sie benötigen.
- Drittens besteht ein Spannungsfeld zwischen der geforderten Unabhängigkeit der Beratungsstellen und dem Erhalt bewährter organisationaler Strukturen bei den Wohnangeboten.
- Viertens zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen der Zentralisierung von Beratungsstellen, was eine Spezialisierung dieser Stellen ermöglicht, und der Notwendigkeit, ein breites, vielfältiges und niederschwelliges Angebot zu gewährleisten.
Kriterien für die Weiterentwicklung des Beratungsangebots
Ausgehend von einer Auslegeordnung zur bestehenden Landschaft der Beratungsangebote und den zukünftigen Anforderungen im System SEBE wurden im Rahmen der Studie sechs SOLL-Kriterien für die Weiterentwicklung der Beratungsangebote ermittelt:
- Beratungsarten: Um polyvalente Beratung zu Themen der Lebensgestaltung und des Wohnens zu ermöglichen, soll die Beratungsstelle Sozialberatung oder psychosoziale Beratung anbieten.
- Beratungsthemen: Das Themenspektrum der Beratungsstelle soll breit genug sein, um auch das Thema Wohnen abzudecken, da spezifische Beratungsstellen hierzu selten sind.
- Niederschwelligkeit: Beratung soll ortsunabhängig, aufsuchend, kostenfrei und ohne Anmeldung möglich sein, um den Zugang zu bedarfsgerechten Leistungen zu sichern.
- Peer-Beratung: Diese ergänzt idealerweise professionelle Beratung, da Menschen mit Behinderungen sich besser angesprochen fühlen und Peer-Beratende spezifische Kompetenzen mitbringen.
- Unabhängigkeit: Organisationen mit Beratungsstellen sollen keine Interessenkonflikte durch eigene Wohnangebote haben.
- Qualifikation und Qualitätssicherung: Tertiär qualifiziertes Beratungspersonal ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal, das von Menschen mit Behinderungen aber nur teilweise als wichtig erachtet wird. Ein alternatives Merkmal zur laufenden Weiterentwicklung des Personals ist die Qualitätssicherung durch Intervision oder kollegiale Beratung.
Die Studie der BFH und Interface bestätigt, dass Beratungsangebote eine zentrale Rolle spielen, damit Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Auswahl von Leistungen treffen können. Sie empfiehlt dem Kanton Zürich, auf der Vielfalt der bestehenden Beratungsstellen aufzubauen und den Ausbau der Beratungsleistungen voranzutreiben. Dabei sollten die in der Studie ermittelten sechs Kriterien berücksichtigt werden. Diese dienen nicht als Ausschlusskriterien, sondern sollen einerseits als Leitlinie für die Weiterentwicklung der bestehenden Beratungsstellen fungieren und andererseits als Massstab bei der Auswahl von Stellen helfen, deren Dienstleistungen im Rahmen des SEBE-Systems ausgebaut oder erweitert werden sollen.
Die Studie empfiehlt zudem die Schaffung eines digitalen «Single Information Point», der als niederschwellige Anlaufstelle die Übersicht über die verschiedenen Beratungsstellen verbessern könnte. Weiter wird angeregt, den Austausch zwischen den Beratungsstellen zu fördern, um Erfahrungen und Best Practices mit dem System SEBE zu teilen.
Dieser Artikel ist im Januar 2025 in einer ausführlicheren Version im «impuls – Fachmagazin des Departements Soziale Arbeit BFH» ersterschienen. Abonnieren Sie das Printmagazin gratis
Kontakt:
- Prof. Dr. Tobias Fritschi, Leiter Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik
- Dr. Christoph Tschanz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik
Artikel und Berichte:
- Fritschi, T., von Bergen, M., Müller, F., Lehmann, O. (2024). Die Entwicklung des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz: Ein Überblick über Wohnformen, Finanzierung, Erfahrungen und Bedürfnisse unter Berücksichtigung der Umsetzung der UN-BRK. sozialpolitik.ch 2/24.
- Tschanz, C., Thorshaug, K., Richard, T., Müller, F., Fritschi, T. & Wyssling, P. (2023). Bedarfsanalyse Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen. Bericht zuhanden des kantonalen Sozialamts Zürich.
- Fritschi, T., von Bergen, M., Müller, F., Lehmann, O., Pfiffner, R., Kaufmann, C. & Hänggeli, A. (2022). Finanzflüsse und Finanzierungsmodelle im Bereich Wohnangebote für Menschen mit Behinderung. Schlussbericht zuhanden des EBGB, des BSV und der SODK.
- Fritschi, T., von Bergen, M. & Müller, F. (2020). Das Wohnangebot für Menschen mit Behinderungen im Wandel. Soziale Sicherheit CHSS.
Projekte und Partner:
Literatur und weiterführende Links:
- Abplanalp, E., Cruceli, S., Disler, S., Pulver, C. & Zwilling, M. (2020). Beraten in der Sozialen Arbeit. Bern: Haupt.
- UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK
- Weinbach, H. (2016). Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Das Konzept der Lebensweltorientierung in der Behindertenhilfe. Weinheim: Beltz Juventa.
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