Menschen mit Behinderungen sollen selbstbestimmt Entscheidungen treffen können. Der Ansatz des Supported Decision Making ist im angelsächsischen Raum bereits weitverbreitet. Er birgt grosses Potenzial, insbesondere im Erwachsenenschutz und bei sozialpädagogischen Wohnformen. Nun wurde ein bewährtes Modell in den deutschsprachigen Kontext überführt.
Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet die Vertragsstaaten, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmte Entscheidungsfindungen ermöglicht werden. Der Ansatz des Supported Decision Making – auf Deutsch unterstützte Entscheidungsfindung oder unterstützte Entscheidung – befähigt Menschen, trotz Einschränkungen selbst Entscheidungen zu treffen. Es handelt sich dabei um eine personenzentrierte Assistenzleistung, die sowohl die rechtliche Handlungsfähigkeit als auch die individuelle Entscheidungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung stärkt.
Das von Christine Bigby und Jacinta Douglas entwickelte La Trobe-Modell richtet sich insbesondere an Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Es unterstützt Fachpersonen dabei, Entscheidungsprozesse strukturiert zu begleiten, und liegt als Rahmenkonzept für die Praxis und als frei zugängliche Online-Ressource vor. Kürzlich wurde nun eine Beschreibung des Modells auf Deutsch veröffentlicht.
Wie funktioniert das Modell?
Drei zentrale Prinzipien liegen dem Modell zugrunde:
- Engagement: Unterstützende Personen müssen eine verlässliche und engagierte Beziehung zur Person mit Behinderung pflegen und deren Rechte respektieren.
- Koordination: Um eine umfassende Unterstützung sicherzustellen, braucht es die formelle sowie informelle Zusammenarbeit der verschiedenen Beteiligten.
- Reflexion: Die unterstützenden Personen müssen sich der eigenen Werte und Einflüsse bewusst zu sein, damit sie die Entscheidung der Menschen mit Behinderungen nicht beeinflussen.
Der Hauptfokus des Modells liegt auf dem Prozess, der sieben Schritte umfasst. Diese sind flexibel anwendbar und können an die Situation angepasst durchgeführt werden. Sie unterstützen die Fachpersonen dabei, ihre Assistenzrolle bei der Entscheidungsfindung strukturiert, reflektiert und personenzentriert zu gestalten.
- Die Person kennen(-lernen)
- Die Entscheidung identifizieren und beschreiben
- Den Willen und die Präferenzen der Person für die Entscheidung verstehen
- Die Entscheidung verfeinern und Einschränkungen berücksichtigen
- Entscheiden, ob eine selbstbestimmte, gemeinsame oder eine stellvertretende Entscheidung notwendig ist
- Zu der Entscheidung und den damit verbundenen Entscheidungen kommen
- Die Entscheidung umsetzen und bei Bedarf weitere Unterstützer*innen einbeziehen

Quelle: Davidson et al. (2018): Supported decision making – experiences, approaches and preferences. Praxis Care, Mencap und Queen’s University Belfast; in Anlehnung an Bigby und Douglas (2016); eigene Übersetzung
Es gibt Strategien, die den Prozess unterstützen: eine klare Kommunikation, unterstützte Kommunikation, verständliche Informationen, aktives Zuhören und das Schaffen von Erfahrungsräumen.
Wann lässt sich das La Trobe-Modell anwenden?
Supported Decision Making ermöglicht Menschen die Mitbestimmung, wenn ihre Selbstbestimmung rechtlich oder praktisch eingeschränkt ist. Besonders im Erwachsenenschutz – z.B. bei einer Begleitbeistandschaft – ist es ein wichtiger Auftrag und eine wertvolle Hilfestellung. Auch in sozialpädagogischen Settings kann das Modell relevant sein. Mittels Strategien, wie beispielsweise dem Aufschlüsseln komplexer Entscheidungen, kann der Ansatz Fachpersonen dabei helfen, Selbstbestimmung innerhalb institutioneller Strukturen zu fördern.
Supported Decision Making hat zudem eine sozialpolitische Dimension. Denn mit den neuen subjektorientierten Finanzierungsmodellen erweitert sich die Wahlfreiheit von Menschen mit Behinderung. Dies setzt aber passende Beratungs- und Assistenzangebote voraus, was politisch berücksichtigt werden muss. Wer Selbstbestimmung fördern will, muss auch qualifizierte Assistenz- und Beratungsangebote sowie personelle und zeitliche Ressourcen mitbedenken. Hier kann das La Trobe-Modell einen wichtigen Beitrag zu mehr Selbstbestimmung leisten.
Kontakt:
- Dr. Christoph Tschanz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik
Artikel und Berichte:
- Tschanz, C. (2025). «Supported Decision Making» nach dem La Trobe-Modell. Ein Ansatz zur selbstbestimmten Entscheidungsfindung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 31 (7), 2-8.
- Fritschi, T. & Tschanz, C. (2025). Menschen mit Behinderungen: Beratung für selbstbestimmte Entscheidungen. impuls: Magazin des Departements Soziale Arbeit, 1, 15–17.
Literatur und weiterführende Links:
- Bigby, C. & Douglas, J. (2016). Support for decision making – A practice framework. Living with Disability Research Centre, La Trobe University.
- Bigby, C., Douglas, J. & Vassallo, S. (2019). The La Trobe Support for Decision Making Practice Framework. An online learning resource.
- Davidson, G., Edge, R., Falls, D., Keenan, F., Kelly, B., McLaughlin, A., Montgomery, L., Mulvenna, C., Norris, B., Owens, A., Irvine, R. S. & Webb, P. (2018). Supported decision making – experiences, approaches and preferences. Praxis Care, Mencap und Queen’s University Belfast.
- Niediek, I. (2016). Unterstützte Entscheidung. Herausforderungen und Chancen eines Ansatzes. Gemeinsam leben: Zeitschrift für Inklusion, 2, 78–85.
- Rosch, D. (2019). Erwachsenenschutz zwischen Selbstbestimmung, Supported Decision Making und Substitute Decision Making. Fampra, 20 (1), 105–118.
- Tanner, C. & Gurtner, J. A. (2022). (Selbst-) bestimmt mit kognitiver Beeinträchtigung. Ein Modell zur Förderung von selbstbestimmten Entscheidungsprozessen im agogischen Wohnalltag. Bachelorthesis, BFH Soziale Arbeit.








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