Um gesund zu bleiben, sollen Bürgerinnen und Bürger ihre Gesundheitsrisiken kompetent erkennen und kontrollieren können. Das Konzept der Gesundheitskompetenz ist vielversprechend, vergisst jedoch die sozialen Realitäten.
«Bürger und Bürgerinnen können gut informiert, verantwortungs- und risikobewusst Entscheidungen treffen, die ihre Gesundheit sowie die Gesundheit ihrer Angehörigen bestimmen.» Dies ist eines von acht Zielen der bundesrätlichen Gesundheitsstrategie 2020-2030. Es gründet in der Schweizerischen Gesundheitskompetenzbefragung von 2015, die aufzeigte, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung Mühe hat Gesundheitsinformationen zu verstehen, zu bewerten und für die eigene Gesundheit zu nutzen.
In der Strategie wird weiter ausgeführt, dass Umwelt- und Arbeitsrisiken zu den besonders einflussreichen Gesundheitsrisiken gehören. Diese Risiken sind zweifelsohne relevant, in der Schweiz sind sie aber lediglich für 7% der Todesfälle verantwortlich und ihr Einfluss auf die Krankheitslast (Lebensjahre mit Erkrankung) ist eher gering. Die grössten Gesundheitsrisiken sind Verhaltensrisiken, die möglicherweise durch eine entsprechende Gesundheitskompetenz der Bevölkerung gesenkt werden könnten. Sie erklären gemäss Global Burden of Disease Study 35% der Todesfälle in der Schweiz und wirken sich auch stärker auf die Krankheitslast aus. Das wichtigste Verhaltensrisiko ist eine falsche Ernährung. Sie allein erklärt 17% aller Todesfälle, während Tabakkonsum mit 16% an zweiter Stelle der Verhaltensrisiken steht.
Acht bis neun zusätzliche Lebensjahre
Die Bedeutung von Verhaltensrisiken wurde jüngst durch eine Kohortenstudie mit über 111’000 Teilnehmenden bestätigt. Sie zeigte, dass 50-jährige Frauen eine um neun Jahre höhere Lebenserwartung haben, wenn sie vier oder fünf der folgenden Lebensstilfaktoren nachweisen können: Nichtrauchen, körperliche Aktivität von 3,5 Stunden pro Woche, gesunde Ernährung, moderater Alkoholkonsum und Normalgewicht. Männer gleichen Alters gewinnen mit diesem Lebensstil durchschnittlich acht zusätzliche Lebensjahre. Bemerkenswert ist zudem, dass mit einem gesunden Lebensstil nicht nur Lebensjahre gewonnen werden, sondern auch das Auftreten chronischer Erkrankungen wie Krebs, Herzkreislauferkrankungen und Diabetes Typ 2 verzögert werden kann. Die maximal gewonnene Lebenszeit ohne chronische Erkrankungen beträgt bei 50-jährigen Frauen durchschnittlich elf Jahre und bei 50-jährigen Männer acht Jahre.
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Geschätzte Lebenserwartung im Alter von 50 Jahren mit und ohne Krebs, Herzkreislauferkrankungen oder Typ-2-Diabetes entsprechend der Anzahl der risikoarmen Lebensstilfaktoren (Nichtrauchen, körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, moderater Alkoholkonsum und Normalgewicht). Quelle: Li, Yanping et al. (2020): Healthy lifestyle and life expectancy free of cancer, cardiovascular disease, and type 2 diabetes; In BMJ 368, l6669.
Nicht alle können ihr Verhalten einfach ändern
Zurück zum Thema Gesundheitskompetenz: Während Umwelt- und Arbeitsrisiken vom Staat und Arbeitgeber reduziert und «gemanagt» werden müssen, suggeriert das Konzept der Gesundheitskompetenz, dass Verhaltensrisiken von jeder und jedem einzelnen verantwortet und kontrolliert werden können. Gerade bei Übergewicht und unausgewogener Ernährung ist jedoch keine Entspannung in Sicht. Ihre Anteile zur Erklärung der Lebensjahre mit einer Erkrankung nehmen in der Schweiz seit Jahrzehnten zu. Auch die mit dem Verhalten in Verbindung stehenden Stoffwechselstörungen – Blutdruck, Blutzucker, Cholesterin, Körpergewicht und Nierenerkrankungen – steigen seit der Jahrtausendwende deutlich an.
Für die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung – und unter anderem auch für ihre Widerstandskraft gegenüber Viren wie SARS-CoV-2 – sowie für die Finanzierung des Gesundheitswesens ist es entscheidend, inwiefern die Krankheitslast von chronischen, nichtübertragbaren Erkrankungen wie Krebs, Herzkreislauferkrankungen und Diabetes durch Lebensstilfaktoren gesenkt werden kann. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz scheint dafür ein Hoffnungsträger zu sein, verschiebt aber die Verantwortung vom Staat zum Individuum. Diese Abgabe der Verantwortung birgt zwei Gefahren: Einerseits besteht aufgrund unterschiedlicher Bildungshintergründe und Lebenswelten eine Chancenungleichheit, sich diese Gesundheitskompetenzen anzueignen. Zweitens haben nicht alle Menschen – auch wenn sie sich die durch Präventionskampagnen und Fachpersonal vermittelten Informationen angeeignet haben – die gleichen Chancen, dieses Wissen auch in gesündere Verhaltensweisen umzuwandeln. So ist beispielsweise der Tabakkonsum in den letzten zwanzig Jahren bei Personen mit tertiärem Bildungsabschluss stärker gesunken als bei Personen mit obligatorischem Bildungsabschluss.
Gesundheitskompetenz hilft nicht gegen Ungleichheit
Inwiefern Gesundheitskompetenz in gesunde Verhaltensweisen und eine gute Gesundheit mündet, hängt nicht nur vom Niveau der Gesundheitskompetenz, sondern auch von sozialen und persönlichen Faktoren ab. Eine Studie mit Daten der Schweizerischen Jugendbefragung YASS zeigte, dass das soziale Umfeld und die persönlichen Interessen dabei unterstützen, die Informationsflut zu verarbeiten und qualitativ gute Entscheide zu fällen und umzusetzen. Für junge Erwachsene hat dies eine grössere Bedeutung als ihre eigentliche Gesundheitskompetenz.
Macht Gesundheitskompetenz nun gesund? Vor dem Hintergrund der ungleichen Verteilung sozialer und persönlicher Ressourcen gibt es heute wenig Evidenz, dass sie die Gesundheit der Gesellschaft verbessert und die gesundheitliche Ungleichheit verringert. So zeigte sich in den letzten Monaten, dass die gegenwärtige Pandemie sozioökonomische Ungleichheiten verschärft und sich die Chancen, Gesundheitskompetenz in gesunde Verhaltensweisen umzusetzen, für viele verschlechtert haben.
Vor diesem Hintergrund ist die Politik mehr denn je gefordert, evidenzbasierte Massnahmen zur Gesundheitsförderung umzusetzen. Dazu gehört die Bewegungsförderung für sozial benachteiligte Menschen und die flächendeckende Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht. Ebenso braucht es eine obligatorische und auffällige Beschriftung ungesunder Nahrungsmittel, Tabak- und Alkoholprodukte, ein konsequentes Werbeverbot derselben und die Besteuerung gesundheitsschädlicher Nahrungsmittel zur Deckung der von ihnen verursachten Gesundheitskosten.
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Literatur und weiterführende Links:
- BAG (2019): Die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020–2030. Bundesamt für Gesundheit (BAG). Bern.
- Bieri, Urs; Kocher, Jonas Ph.; Gauch, Carole; Tschöpe, Stephan; Venetz, Aaron; Hagemann, Marcel et al. (2016): Bevölkerungsbefragung «Erhebung Gesundheitskompetenz 2015». Schlussbericht. gfs.bern ag. Bern.
- Della Bucher Torre, Sophie; Jotterand Chaparro, Corinne (2019): Grundlagenpapier Zucker. Grundlagenpapier betreffend Ausrichtung der Aktivitäten zur Reduktion des Zuckerkonsums in der Schweiz. Fachbereich Gesundheit: Ernährung und Diätetik, Westschweizer Fachhochschule (HES-SO). Genf.
- Herbert, Annika; Abu-Omar, Karim; Streber, Anna (2019): Bewegungsförderung bei Frauen in schwierigen Lebenslagen – das BIG-Projekt. In: Public Health Forum 27 (2), pp. 123–125.
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- Jordan, Rachel E.; Adab, Peymane (2020): Who is most likely to be infected with SARS-CoV-2? In: The Lancet Infectious Diseases.
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- Li, Yanping; Schoufour, Josje; Wang, Dong D.; Dhana, Klodian; Pan, An; Liu, Xiaoran et al. (2020): Healthy lifestyle and life expectancy free of cancer, cardiovascular disease, and type 2 diabetes: prospective cohort study. In: BMJ (Clinical research ed.) 368, l6669.
- Meier, Toni; Senftleben, Karolin; Deumelandt, Peter; Christen, Olaf; Riedel, Katja; Langer, Martin (2015): Healthcare Costs Associated with an Adequate Intake of Sugars, Salt and Saturated Fat in Germany: A Health Econometrical Analysis. In PLoS ONE 10 (9), e0135990.
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- Schweizerisches Gesundheitsobservatorium OBSAN: Tabakkonsum; Schweizer Monitoring-System Sucht und nichtübertragbare Krankheiten
- The Lancet, Global Burden of Disease Compare, Viz Hub
- Weber, D. & Hösli, S. (2020). Chancengleichheit in Gesundheitsförderung und Prävention. Bewährte Ansätze und Erfolgskriterien. Kurzversion für die Praxis. Bern: BAG, GFCH, GDK.
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