Die politischen Ziele im Kindesschutz stimmen über die Landesgrenzen hinaus grösstenteils überein: z.B. kurze Abklärungszeiten und der Einbezug betroffener Kinder. Die sich von Land zu Land unterscheidende Praxis führt jedoch zu unterschiedlichen Resultaten. Diese vergleicht Dr. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut München (DJI) im internationalen Forschungsprojekt HESTIA. Im Interview mit «knoten & maschen» präsentiert er nun erste Resultate.
Herr Kindler, erklären Sie uns bitte kurz, worum es bei HESTIA geht?
HESTIA vergleicht die Kindesschutzpraxis und die dahinterstehenden politischen Konzepte über die Länder Deutschland, England und die Niederlande hinweg. Es gibt zwar schon etliche Ländervergleiche im Kindesschutz, aber die meisten bleiben bei Zielen und Strukturen stecken. Die Ebene der tatsächlichen Praxis in Kindesschutzfällen fehlt. Die ist aber nötig, um länderübergreifend voneinander lernen zu können. Bei HESTIA haben wir eine Methodik angewandt, die es uns erlaubt, anhand von Akten von Kindesschutzfällen die Kindesschutzpraxis der drei Länder miteinander zu vergleichen. Wir haben damit einen kleinen, aber wichtigen wissenschaftlichen Fortschritt für Ländervergleiche im Kinderschutz erzielt.
Was sind die ersten Ergebnisse der HESTIA-Studie?
Ein Ergebnis betrifft beispielsweise die Zeit vom Eingang der Gefährdungsmeldung bis zur Entscheidung. Es ist allen Beteiligten klar, dass diese Zeit für die betroffenen Kinder und Familien sehr belastend ist. Und es ist das Ziel aller Länder, gut überlegte, aber rasche Entscheidungen zu treffen. Wir haben aber massive Unterschiede in der Zeitdauer festgestellt. In Deutschland dauert es durchschnittlich 23 Tage, in Holland mehr als 70 Tage bis zu einer Entscheidung. Wir haben geprüft, ob diese Unterschiede von Fallcharakteristika abhängen. Das tun sie nicht.
Auch führen längere Abklärungszeiten nicht zu qualitativ besseren Abklärungen. Wir vermuten daher, dass die Dauer vor allem etwas mit Organisationsmerkmalen zu tun hat.
Würde man diese verbessern, könnte sich auch die Bearbeitungsdauer der Fälle verringern. Es gab allerdings in allen Ländern zwischen unterschiedlichen Projektstandorten statistisch signifikante Unterschiede. Es ist also nicht nur eine Frage der landesweiten Strukturen, sondern vermutlich auch der lokalen Organisationsbedingungen.
Die Anlage des HESTIA-Projekts ermöglicht es, Abweichungen zwischen den staatlichen Zielen und der tatsächlichen Kindesschutzpraxis zu beschreiben. Welche Diskrepanzen haben Sie festgestellt?
Besonders deutliche Diskrepanzen gibt es bei der Partizipation von Kindern. In allen drei Ländern ist es das Ziel, Kinder in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Es gibt einen fachlichen Konsens, dass man hören muss, was Kinder zu ihrer Situation sagen, auch wenn man ihnen nicht versprechen kann, genau dem zu folgen. Wir haben diesen Einbezug zu messen versucht. Dazu haben wir geschaut, ob eine Beobachtung bei jüngeren, noch nicht sprachfähigen Kindern oder ein Gespräch mit Kindern in den Akten dokumentiert war. Das ist zwar ein schwacher Indikator für Partizipation, weil qualitative Aspekte nicht erfasst. Wenn allerdings nicht einmal dokumentiert ist, dass man das Kind gesehen oder gesprochen hat, lässt sich daraus schliessen, dass das Kind sicher nicht partizipiert hat.
Wir konnten feststellen, dass im holländischen Kindesschutzsystem nur in einer Minderheit der Fälle ein Einbezug der Kinder dokumentiert wurde. Im deutschen findet man den Einbezug in ungefähr zwei Dritteln der Fälle.
Das ist mehr, aber nicht genug und führt zur Frage, weshalb das zum Teil unterlassen wird. Arbeitsbedingungen könnten eine Rolle spielen, aber auch, dass manche Fachkräfte diese Aufgabe fürchten. Also wäre es eine Aufgabe von Ausbildungsinstitutionen und Fortbildungsangeboten, für mehr Sicherheit und Kompetenz im Hinblick auf Gespräche mit Kindern im Kinderschutz zu sorgen.
Wie sind diese Ergebnisse über die Grenzen der drei Länder hinaus zu beurteilen, was also bedeuten sie für die Schweiz?
Da gibt es zwei Schlussfolgerungen. Erstens: Ob die politisch formulierten Ziele für den Kindesschutz in der Praxis erreicht werden, lässt sich nur sagen, wenn man weiss, wie die Praxis tatsächlich funktioniert. Und zweitens: Eine starke Praxisforschung ist wichtig, um die Kluft zwischen politischen Zielen und tatsächlicher Praxis zu verringern. Praxisforschung zielt auf die Entwicklung und Verbesserung der Praxis ab. In allen Ländern, die ich kenne, gibt es solche Bestrebungen. Es gibt aber auch überall Lücken. In Kontinentaleuropa besonders in der Hilfe- und Interventionsforschung. Die meisten Befunde zur Wirkung von Trainings oder Hilfen mit Eltern und Kindern stammen bislang aus außereuropäischen Ländern wie den USA, Australien oder auch Israel. Und, soweit wir wissen, können wir solche Ergebnisse nicht einfach auf Kontinentaleuropa übertragen. Bei diesen Themen ist es Aufgabe des Wissenschaftssystems in unseren Ländern, die Praxis nicht im Stich zu lassen.
Die Praxisforschung ist also ein Mittel, die Lücke zwischen politischer Rhetorik und Praxisrealität zu schliessen. Kommen diese Lücken eventuell dadurch zustande, dass die Politik Versprechungen macht, die ihrerseits Antworten auf gesellschaftliche Erwartungen sind? Könnte man sagen, der Staat verspricht zu viel?
Durch meine Arbeit am deutschen Jugendinstitut bin ich immer wieder an verschiedenen Verfahren der Gesetzgebung beteiligt und beobachte, dass die Politik nicht zwingend besonders interessiert ist, die Umsetzung getroffener Beschlüsse kritisch zu begleiten und zu überwachen. Umsetzungsschwierigkeiten könnten ja als Argument im politischen Konkurrenzkampf verwendet werden. Das ist der Unterschied zwischen dem politischen und dem wissenschaftlichen System.
Das wissenschaftliche System ist besonders interessiert an der Schwäche des eigenen Arguments. Hier ist es wichtig zu wissen, weshalb man nicht recht hat, damit man von da aus weiterdenken kann. Eine solche Haltung können sich politisch Verantwortliche nicht immer leisten.
Deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik an dieser Stelle so wichtig. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, auf Umsetzungsschwierigkeiten hinzuweisen und auch Hilfestellungen zu geben, damit man diese lösen kann.
Wenn Sie von Kindesschutzpraxis sprechen, betrifft das die Praxis der Sozialen Arbeit oder auch diejenige anderer Professionen?
Die HESTIA-Untersuchung hat grundsätzlich alle Professionen und Einrichtungen berücksichtigt, die Kindesschutzfälle bearbeiten und Entscheidungen treffen. Das sind in allen drei Ländern mehrheitlich Menschen mit einer Ausbildung in Sozialpädagogik oder Sozialer Arbeit. In Deutschland findet man kaum andere Berufsgruppen, es ist ein weitgehend monoprofessionelles System. Die Kooperation mit anderen Berufsgruppen beziehungsweise mit Einrichtungen ausserhalb der Sozialen Arbeit ist bislang eher schwach und ungeregelt. Die Engländer ihrerseits haben ein System, das den Einbezug anderer Berufsgruppen stärker regelt und beispielsweise Schulen regelhaft und entsprechend häufiger einbindet.
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Moeri Gächter Christa
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