Die Studie «Warten auf Transfer» dokumentiert das (Er-)Leben begleiteter Kinder in Schweizer Asylunterkünften. Sie beschreibt ein Leben im Wartezustand, das die Kinder und ihre Familien belastet. Wo kann die Soziale Arbeit ansetzen?
Weltweit sind über 40 Prozent aller geflüchteten Menschen minderjährig. Gemäss der Studie «Warten auf Transfer» waren im Jahr 2020 in der Schweiz 90 Prozent der Minderjährigen als «begleitet» registriert: Sie stellten mit ihren Eltern, einem Elternteil oder erwachsenen Verwandten einen Asylantrag. 40 Prozent von ihnen wurden erst in der Schweiz geboren. Die im Herbst 2023 erschienene Studie untersuchte zwischen Juli 2019 und Juli 2020 das Leben von Kindern in einer Schweizer Asylunterkunft ethnographisch. 44 Kinder aus 20 Familien wurden während eines Jahres begleitet.
Die Studie zeigt: Kinder und Jugendliche in Schweizer Asylunterkünften erfahren räumlichen und sozialen Ausschluss. Asylunterkünfte können grundsätzlich als «ungeeignete» und «kinderfeindliche» Orte beschrieben werden, welche die Sicherheit und das Wohlbefinden von Kindern gefährden. Die Schweiz wird von der UN für eine mangelhafte Kinderrechtspolitik kritisiert. Im Asylbereich fehlen zudem häufig Leitlinien, Mindeststandards und eine sichere Datenlage. Die prekäre Situation im Asylbereich erleben Sozialarbeiter*innen als reale Herausforderung in ihrem Arbeitsalltag. Es besteht eine grosse Diskrepanz zwischen dem, was fachlich und professionsethisch geboten ist, und dem, was rechtlich und praktisch nahegelegt wird.
Klar ist: Die Lebensbedingungen im Asylzentrum müssen in Hinsicht auf Kinderrechte sowie Gesundheits- und Sicherheitsrisiken geprüft und geeignete Massnahmen zur Verbesserung der Situation erarbeitet werden. Alle Beteiligten sollten in die Erarbeitung von Massnahmen einbezogen und in deren Anwendung geschult werden. Nötig sind auch Meldepflichten und -wege bei Regelverletzungen der Mitarbeitenden. Zu empfehlen ist eine enge Zusammenarbeit mit den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe, die bereits entsprechende Konzepte erarbeitet haben. Zudem sollte geprüft werden, ob begleiteten Kindern mit «aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit» Vertrauenspersonen an die Seite gestellt werden können, die ihre Rechte vertreten.
Orte des Ankommens und Bedingungen für eine gesunde Entwicklung schaffen
Um für die Kinder Orte des Ankommens und des gesunden Aufwachsens zu schaffen, müssen ihre Bedürfnisse für eine gesunde und altersgerechte Entwicklung ermittelt und entsprechende Massnahmen abgeleitet werden. Auch die Selbstbestimmung im Lebensalltag der Kinder und ihrer Familien sollte gestärkt werden. Dazu gehören elementare Dinge: Familien sollten selbst entscheiden können, wann sie essen und welche Mahlzeiten sie zubereiten. Genauso sollten Badezimmer die Bedürfnisse und das Wohlbefinden von Kindern berücksichtigen, damit sie nicht mehr aus Ekel und Angst vor den Toiletten einnässen oder Windeln tragen.
Solange Familien in Asylunterkünften zentral untergebracht werden, sollte ihre Privatsphäre, ihr Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe baulich berücksichtigt werden. Familienzimmer sollten so eingerichtet werden, dass Wohneinheiten jeweils mit Ruhe- und Aufenthaltszonen sowie Badezimmern pro Familie eingerichtet werden. Die Grenzen des Familienzimmers sollten von allen Mitarbeitenden und Besucher*innen respektiert werden. Das heisst auch, dass Zimmerkontrollen nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn die gesetzlichen Bestimmungen für eine Hausdurchsuchung erfüllt sind.
Eigenständige Wohnungen werden als die optimale Umgebung für Kinder und ihre Familien beschrieben, da sie wesentlich zu ihrem Wohlbefinden beitragen. Allerdings ist bezahlbarer Wohnraum für Familien rar. Zugleich ist bei der Erbauung von Asylzentren oder der Umnutzung bestehender Gebäude zu Asylzentren erfahrungsgemäss mit Widerstand aus der Bevölkerung zu rechnen. Dennoch sollten wo immer möglich Asylunterkünfte in eine gute Infrastruktur unweit von oder in Städten eingebettet sein. Auf eine unterirdische Unterbringung sollte dringend verzichtet werden.
Begegnungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten in der «Schweiz da draussen» ausbauen
Die Kinder, die an der Untersuchung teilgenommen haben, wünschen sich Gelegenheiten, um mit der «Schweiz da draussen» in Kontakt zu treten und «normale Dinge» zu tun. In erster Linie sollten deshalb bestehende Angebote für Kinder daraufhin überprüft werden, inwieweit sie solche Begegnungen ermöglichen und entsprechend ausgebaut werden. Gute Gelegenheiten bieten Stadtfeste, Bibliotheken, Spielplätze, Schwimmbäder, Vereine sowie die rasche Einschulung. Für Kleinkinder sollten frühkindliche Bildungsangebote zugänglich gemacht werden. Nicht schulpflichtige Jugendliche sollten Bildungs- und Spracherwerbsmöglichkeiten erhalten.
Die gängige Praxis der Wechsel von Asylunterkünften sollte vermieden oder nur mit dem Kindeswohl begründet durchgeführt werden. Denn die Wechsel haben in aller Regel fortwährende Brüche der Bildungs- und Integrationsbiografie der Kinder zur Folge und sind psychisch sehr belastend. Da Kinder ein Recht auf Familie haben, müssen Reglemente, die den Familienkontakt erschweren, abgeschafft werden. Stattdessen sollte erarbeitet werden, wie dieser Kontakt gefördert werden kann. Als Beispiel: Väter, deren Kinder in anderen Kantonen untergebracht sind, sollten in den Asylunterkünften ihrer Kinder übernachten dürfen. Grundsätzlich sollten Familien innerhalb der Schweiz so rasch wie möglich zusammengeführt werden.
Fazit
Es ist eine dringende Empfehlung, die hier diskutierten Massnahmen zum Kindeswohl, zu den verbesserten Lebensumständen und zum Schutz der Rechte der in Asylunterkünften platzierten Kinder weiter auszuarbeiten und vor allem ihre Umsetzung und unabhängige Prüfung sicherzustellen. Die Soziale Arbeit kann dazu einen entscheidenden Beitrag leisten: Sie ist fachlich gut ausgestattet, um sich gegen Diskriminierung und für die Rechte von Kindern einzusetzen und ein gutes Leben für sie zu ermöglichen. Denn bisher fehlen den betroffenen Kindern Perspektiven.
Dieser Artikel ist im Januar 2024 in einer ausführlicheren Version im Kundenmagazin «impuls» erschienen.
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Literatur und weiterführende Links:
- Alice Salomon Hochschule. (2016). Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften – Professionelle Standards und sozialpolitische Basis.
- Goosen, S., Stronks, K., & Kunst, A. E. (2014). Frequent relocations between asylum-seeker centres are associated with mental distress in asylum-seeking children: A longitudinal medical record study. International Journal of Epidemiology, 43(1), 94–104.
- Janotta, L. (2015). Auf dem Weg zur Diskussion Sozialer Arbeit mit Nutzer_innen in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 13(4), 383–404.
- Kriso. Forum für kritische Soziale Arbeit. (2022). Es mangelt nicht an Fachkräften, sondern an guten Arbeitsbedingungen.
- UNHCR. (2022). Global Trends. Forced Displacement in 2021. The UN Refugee Agency.
- UNICEF. (2017). Kindheit im Wartezustand. Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland.
- United Nations Committee on the Rights of the Child. 2021. Concluding observations on the combined fifth and sixth periodic reports of Switzerland.
- Weber, D., & Rosenow-Williams, K. (2022). Kinderschutz in Unterkünften für geflüchtete Menschen. In: J. O. Kleist, D. Dermitzaki, B. Oghalai, & S. Zajak (Hrsg.), Gewaltschutz in Geflüchtetenunterkünften. Theorie, Empirie und Praxis (S. 171–196). Bielefeld: Transcript.
- Wihstutz, A. (Hrsg.). (2019). Zwischen Sandkasten und Abschiebung. Zum Alltag junger Kinder in Unterkünften für Geflüchtete. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.
2 Kommentare
Anna Haller
Vielen Dank, dass ihr auf diese wichtige Thematik aufmerksam macht und konkrete Schritte zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern in Asylunterkünften vorschlagt. Es ist ermutigend zu sehen, dass es Organisationen wie Knoten & Maschen gibt, die sich mit so viel Engagement für die Wahrung der Rechte der Schwächsten in unserer Gesellschaft einsetzen.
Liebe Grüsse,
Anna Haller
Alea
https://www.knoten-maschen.ch/psychische-gesundheit-jugendliche-informieren-gleichaltrige/