Die Autofiktion im «Blutbuch» von Kim de l’Horizon greift viele Fragen auf, die BFH-Dozentin Andrea Abraham in ihren Forschungen beschäftigen. Dies stellte sie eher zufällig fest, als sie das Buch zur Hand nahm. Tauchen auch Sie in ihr sehr persönliches Leseerlebnis ein.
Ich kaufe mir Kim de l’Horizons Buch, ohne etwas über dessen Thematik zu wissen. Ich kaufe es, weil es mich berührt, dass ein Transgendermensch den Deutschen Buchpreis und Schweizer Literaturpreis gewinnt. Ich kaufe es, weil ich mich mit diesem Menschen solidarisieren möchte. Dann beginne ich den Buchklappentext zu lesen, die ersten Seiten, das ganze Buch und finde mich in einem Thema wieder, das mich seit einigen Jahren wissenschaftlich beschäftigt: die Fragen,
- wie die Weitergabe von Traumata in Familien funktioniert
- wie Traumata dabei nicht wie ein Objekt von einer Generation zur nächsten getragen werden, sondern beispielsweise in Form von Tabuisierungen, verletzenden Eltern/Kind Beziehungen, Vernachlässigungs- und Gewalterfahrungen
- wie Familiengeheimnisse wie Nebelschwaden über oder zwischen den Generationen hangen und die Vergangenheit nur unscharf und angedeutet durchschimmern lassen.
Die Nebelschwaden trüben die Sinne, machen das Atmen schwer und nehmen die Orientierung. In sie hineinzusteigen bedeutet, sie durch Kleider- und Hautschichten zu lassen, ohne zu wissen, was sie anrichten werden. Auch Kim de l’Horizons «Blutbuch» ist die Geschichte dieses Hineinsteigens. Das Buch zeigt die Wege der Rekonstruktion von familialer und geschlechtlicher Zugehörigkeit. Es zeigt die Wege des Verstehen-Wollens von Unverständlichem, von Andeutungen, Ahnungen und Abgründen. Es zeigt die Versuche, sich in seiner eigenen Familiengeschichte einzuordnen und sich gleichzeitig von ihr zu befreien.
Diese Ambivalenz zeichnet Familiensysteme grundsätzlich aus. Wir fühlen uns mit unseren Familien verbunden und von ihnen eingeengt, wir zehren von ihnen und leiden in ihnen, wir lieben und hassen sie und oszillieren zwischen Abhängigkeit und Eigenständigkeit. In dieser Ambivalenz finden sich alle Farbtöne und Schattierungen. Wir mischen uns für jede Person in unserer Familie eine je eigene Farbpalette und malen die Ambivalenz in der Beziehung mit wässriger Aquarellfarbe, grobkörniger Kalkpaste oder schwerer Ölfarbe. Es gibt Ambivalenzen, die das Blatt kaum beschweren und andere, die es durchtränken und wie Säure auffressen. Die «prinzipielle Unkündbarkeit von Familie», wie es der Soziologie Kurt Lüscher formulierte, führt dazu, dass wir auch aus belastenden Ambivalenzen nie ganz herauskönnen, Familienbeziehungen nie ganz auflösen können. Auch wenn wir uns in unseren Familiensystemen als Randfiguren positionieren oder sie verlassen, befreien und entlasten uns diese Positionierungen und Entscheide nie vollends. Wir bleiben Ablehnende, Ringende, Wollende, Vermissende. Kim de l’Horizons Buch ist ein Manifest dieser tiefen Ambivalenz von Familie. Es ist ein Suchen und Zusammenfügen von Erinnerungsfragmenten, die kaleidoskop-ähnlich zu vielen verschiedenen Bildern von Realitäten führen. Kim de l’Horizons Buch zeigt den ungeheuerlichen Kraftakt auf, diese Realitäten zu erkunden, Schweigen zu durchbrechen und die zum Vorschein kommenden Bilder zu ertragen, mit einer Sinnhaftigkeit zu versehen und mit den Instrumenten eines Kunstschaffenden neu zu arrangieren.
Die Kunst – hier konkret die Belletristik – erweitert das wissenschaftlich Sag- und Zeigbare. Sie kreiert Ausdrucksformen für Phänomene, die wir mit unseren wissenschaftlichen Methoden und Sprachen immer nur ansatzweise präsentieren können.
In unserem Forschungsprojekt haben wir sehr viele Gewalterzählungen gehört. Wir haben die Möglichkeit, diese Gewalterfahrungen systematisiert zu beschreiben und zu analysieren. Indem wir das tun, gehen uns zentrale Anteile von Gewalt verloren. Mit unseren wissenschaftlichen Worten hinken wir der Gewalt gewissermassen hinterher. Gewalt – so meine Erkenntnis nach den vielen geführten Interviews – ist mehr als eine zu beschreibende Interaktion zwischen Menschen.
Gewalt ist ein Gift, das sich zwischen den Menschen ausbreitet, in sie eindringt und sich ausdehnt – über Generationen hinweg. Wenn wir Gewaltforschung betreiben, dringt dieses Gift auch in uns.
Gewaltforschung zu betreiben bedeutet, sich nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper auf die Gewalterzählungen einzulassen. Wenn wir Interviews zu Gewalt führen, macht dies etwas mit unseren Körpern. Wir erstarren, versteifen uns, frieren, schwitzen, entwickeln Übelkeit oder atmen flach. Worte formen sich zu Bildern, die sich in uns festsetzen. Ich habe für diese Erfahrung in den wissenschaftlichen Methodikbüchern bis jetzt kaum etwas gefunden, das diese «embodied research», wie ich das nenne, beschreibt. Deshalb ist für mich die künstlerische Auseinandersetzung mit Gewalt eine Horizonterweiterung.
Gute Wissenschaft sollte heute auch Storytelling sein. Darin werden wir in unserer wissenschaftlichen Sozialisation leider kaum geschult – und auch unsere Publikationsformate lassen uns wenig kreative Möglichkeiten. Durch die Belletristik lerne ich neue Möglichkeiten kennen, unsere Wissenschaftsgeschichten zu erzählen. Gerade wenn es um sehr ähnliche Phänomene geht – wie hier die transgenerationale Weitergabe von Traumata und Schmerz und Gewalt als anthropologische Grunderfahrungen – ist dieser Vergleich der verschiedenen Präsentationsmöglichkeiten sehr anregend. Bei Kim de L’Horizon ist es ein collagenhaft arrangiertes Buch. Es kann aber auch ein Graphic Novel von Lika Nüssli sein, eine Choreografie von Meg Stuart, eine Performance von Marina Abramovich oder ein Film von Michael Koch.
Meine Vision ist, unsere Zugänge viel stärker miteinander in einen Dialog zu bringen. Erst dann gelingt es uns, die Phänomene, mit denen wir uns beschäftigen, in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen.
So könnten wir einen Workshop machen, in dem Menschen aus verschiedensten Perspektiven – Wissenschaft, Praxis, Kulturwesen, Zivilbevölkerung etc. – in einem leeren Raum mit einem einzigen Zitat aus meiner Gewaltforschung beginnen und dieses Zitat mit ihren jeweiligen Zugängen in Loops bearbeiten, erkunden, erforschen. Welche Spuren liessen sich auf diese Weise durch das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata legen? Welche Mosaikbilder würden entstehen? Wo würden wir gemeinsam enden?
In die Lektüre des «Blutbuchs» verabschieden möchte ich Sie mit starken Sätzen im Buch, die ich mit unserem Projekt verbinde:
- «Vielleicht ist Heimat kein Ort, sondern eine Zeit.» (S. 29)
- «Ich weiss nicht, wo ich anfange und wo ich aufhöre.» (S. 30)
- «Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.» (S. 32)
- «Dein unablässiges Reden ist Sprachlosigkeit.» (S. 48)
- «Deine Hände waren für mich immer die grauenvollsten Tiere auf der ganzen Welt. Nicht weil sie mich bedrohten, weil sie mich packten und streichelten. Sondern weil ich immer spürte, dass ich ihre Geschichte erbe. Dass sich diese Erzählung schon in meinen Körper übersetzt hat und nicht herausfinden wird, wenn ich nichts mache, wenn ich nichts aus ihr mache, wenn ich sie nicht verwandle.» (S. 62)
- «Weil, was ich nicht erzähle, isst mich.» (S. 63)
- «Ein Trauma zu vererben, bedeutet also, ein Auseinandergerissensein, ein Nichtverbundensein weiterzugeben, ein Fehlen von Gewebe.» (S. 133)
- «Was ich sagen möchte, Grossmeer: Da ist eine Leere, und ich weiss nicht, ob es die meine ist. Vielleicht ist diese Leere ein Erbstück, vielleicht ist eine leere Stelle, die weitergereicht wird, in die jede wieder ihre eigenen Fäden ins Leere webt. […] Und vielleicht ist dieser ganze Text, diese ganze Schreibbewegung ein Platzhalter, das Erschaffen eines Ortes, an dem diese Leere endlich einen Raum bekommt. Kein Text, sondern ein Platz, auf dem steht: «Hier ist etwas, das sich nicht sagen lässt.» Was nicht dasselbe ist wie schweigen. Wir brauchen Sätze, um von unseren Traumata nicht sprechen zu können. Ich habe mein Leben lang gemeint, ich müsse unsere Leeren auffüllen, tragen, ertragen, weitertragen. […] Ich dachte, ich sei ein Ersatzkörper, in dem sich die fehlenden, die zu früh gestorbenen, die geopferten Leben ausleben können.» (S. 246f)
- «Ich durchbreche den Kreis der Kinder, die ihre Eltern umbringen, um frei zu sein, um sich selbst zu werden. Ich töte meine Eltern nicht. Ich bringe meine Mütter zur Welt.» (S. 318)
- «Meine Muttersprache ist das Reden. Meine Vatersprache ist das Schweigen. Und meine eigene Sprache sind Zungen, und meine Zungen tropfen, tröpfeln, verschwimmen, strömen, wurzeln, fliessen.» (S. 334)
Und, wie lesen Sie das Buch?
Prof. Dr. Andrea Abraham forscht unter anderem zu biografischen Auswirkungen und transgenerationalen Folgen von Fremdplatzierungen. Im Forschungsprojekt «Von Generation zu Generation: Familiennarrative im Kontext von Fürsorge und Zwang» des Schweizerischen Nationalfonds (NFP 76) hat Andrea Abraham die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen untersucht, die bis 1981 zehntausende Menschen in der Schweiz erlebten. Dies mit biografisch einschneidenden Eingriffen, die auch das Leben der nächsten Generationen prägten. In ihren aktuellen Forschungsprojekten am Institut Kindheit, Jugend und Familie beschäftigt sie sich mit der «Zugehörigkeit aus der Sicht von fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen» und der Aufarbeitung von nationalen und internationalen Adoptionen. Denn Kinder und Jugendliche, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, sind in der Entwicklung ihrer Zugehörigkeit besonders herausgefordert.
2 Kommentare
S
Die Worte von Kim l‘Horizon durchbrechen nicht nur, sie eröffnen damit einen neuen Ort, wo mehr Verstehen aufleben kann. Durch die wuchtige Art der Erzählung, werden Verständnis, Mitgefühl und Interesse erweckt und diese Gefühle haften sich auf eine neue Art an uns, wie die Kunst seiner Wortwahl. Der Mut, dass zu sagen, was wirklich ist, kommt auch auf direktem Wege in unseren Herzen an.
Ihre Idee mit den Zitaten finde ich übrigens wundervoll!
Andrea Abraham
Vielen herzlichen Dank für Ihre wunderbare Reaktion und so treffenden Worte. Herzliche Grüsse, Andrea Abraham