Viele Menschen in der Schweiz haben im Zuge des Krieges gegen die Ukraine Geflüchtete in ihren privaten Haushalten aufgenommen. Diese Wohnform birgt Potenzial für die Integration der Geflüchteten. Jedoch ist das Gelingen auch an gewisse Voraussetzungen gekoppelt.
Bis Ende 2022 beantragten 75’000 Ukrainer*innen in der Schweiz Schutz. Die staatlichen Strukturen stiessen an Grenzen und so wurde die private Unterbringung zu einem tragenden Element der Asylpolitik. Rund ein Drittel der geflüchteten Ukrainer*innen waren bei Gastfamilien untergebracht. Die privaten Unterbringungen sind interessant, weil sie niederschwellige Kontakte zwischen Einheimischen und Geflüchteten ermöglichen. Fällt es den Geflüchteten dank diesen Kontakten leichter, anzukommen und sich zu integrieren?
Aus der Literatur wissen wir, dass Kontakte zur lokalen Bevölkerung dazu beitragen können, die Teilhabechancen zu erhöhen. Um herauszufinden, was Gastfamilien diesbezüglich leisten können, führten wir im gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Hochschule Luzern und in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) eine Online-Umfrage unter Gastfamilien durch, an der über tausend Gastfamilien aus 19 Kantonen teilnahmen. Zudem führten wir Interviews mit Gastfamilien und Geflüchteten, um die individuellen Erfahrungen besser zu verstehen.
Care Arbeit: Unterschiedliches Engagement und Bedürfnisse
Die Gastfamilien bewerten das Zusammenleben in den meisten Fällen als gut bis sehr gut. Sie übernahmen praktische Care Arbeit und unterstützten die Geflüchteten bei administrativen und gesundheitlichen Fragen, bei der Stellensuche, beim Spracherwerb oder bei der Freizeitgestaltung. In den Interviews zeigte sich, dass einige Gastfamilien die praktische Unterstützung auf ein Minimum beschränkten, während andere diese als Teilzeit-Job beschrieben. Elsa Bader* erzählte beispielsweise, wie sie sich für die Ukrainerin, die bei ihr wohnte, bei der Wohnungssuche engagiert hat:
«Ich habe am Morgen die Inserate angeschaut, habe telefoniert und gefragt: ‹Nehmen Sie Ukrainer?› Teilweise haben sie gleich nein gesagt. Und an einem Morgen habe ich den hundertsten Termin abgemacht, also es war wirklich ein Halbtages-Job.»
In den Interviews trat zudem hervor, dass die Gastfamilien weitere Formen von Care Arbeit übernommen haben. Nebst der praktischen Unterstützung waren die Gastfamilien auch Gesprächspartner*innen für die Aufgenommenen und leisteten emotionale Care Arbeit. Catia Ivanova* beschrieb, wie bedeutsam es war, dass sie nach der Flucht aus der Ukraine Menschen um sich hatte, die sich um sie gekümmert haben:
«Wir haben immer zusammen zu Abend gegessen und sie [die Gastgeberin] hat für uns gekocht. Das war körperlich und emotional hilfreich, weil sonst hätte ich mich einfach ins Zimmer verkrochen und dann wäre es noch viel schlimmer gewesen. Leute um mich herum zu haben, die fragten, wie es mir geht, gab mir die Möglichkeit, mich mitzuteilen. Ich denke, das war wie eine Therapie, weil sie zuhörte und ich wusste, dass ich nicht alleine bin.»
Die mentale Care Arbeit ist eine weitere Dimension, welche die Gastfamilien in den Interviews beschrieben. Sie umfasste Planungs-, Koordinations- und Organisationsaufgaben. Dies schliesst Überlegungen ein, wie der Haushalt umorganisiert werden müsste oder wie viel Hilfe man zu geben bereit wäre. Es schliesst auch das Durchspielen von Szenarien ein, etwa wie man reagieren würden, wenn die Ukrainer*innen innert nützlicher Frist keine eigene Wohnung finden würden. Andere liessen sich vorgängig von einer*m Psychologin*en beraten, um auf den Umgang mit traumatisierten Menschen vorbereitet zu sein. Markus Fischer* beschreibt seine Überlegungen folgendermassen:
«Sie ist sehr dankbar, dass wir gesagt haben, sie dürfe den Mietvertrag jederzeit ohne Kündigungsfrist auflösen. Wenn sie gehen will, dann darf sie gehen, und dann kümmern wir uns darum, dass die Gemeinde aufhört Geld zu zahlen. Wir haben nicht den Eindruck, dass sie vorhaben, langfristig in der Schweiz zu bleiben. Wenn die Mutter – jetzt hypothetisch – nachkommen würde, müssten wir uns anfangen zu überlegen, ob das wirklich eine Wohnung für vier Personen ist. Von uns aus gesehen, ist die Wohnung schon für drei Personen zu klein. Da müssten wir uns alle überlegen, was wir dann machen. Wahrscheinlich würden wir nicht sagen: ‹Ihr habt drei Monate Kündigungsfrist, dann müsst ihr draussen sein.› Aber wir würden wahrscheinlich nahelegen, dass sie sich etwas anderes suchen.»
Private Unterbringung als temporäre Lösung
Für beide Seiten war die private Unterbringung mit jeweils viel Anstrengung verbunden. Die Gastfamilien beschrieben verschiedentlich, überfordert gewesen zu sein: Sie seien stark auf sich selbst zurückgeworfen gewesen und hätten von behördlicher Seite kaum Unterstützung erfahren.
Hinzu gekommen seien kommunikative und zwischenmenschliche Hürden. Die Ukrainer*innen wiederum wollten den Gastfamilien nicht zur Last fallen und wünschten sich mittelfristig eigene vier Wände:
«Man fühlt sich nicht wie zu Hause und hat nicht das Gefühl, dass es ein eigener Raum ist, in dem man tun und lassen kann, was man will.»
So wurde in den Interviews die private Unterbringung insgesamt als gute temporäre Lösung für die Ankunft in der Schweiz bewertet. Gerade dort, wo das Zusammenleben positiv erlebt wurde, blieben die Beziehungen auch über das Gastverhältnis hinaus bestehen und in manchen Fällen entwickelten sich Freundschaften.
Gastfamilien als Entlastung oder Ergänzung des Asylsystems?
Offenkundig ist, dass die private Unterbringung das Ankommen in der Schweiz im Sinn der sozialen Integration unterstützen kann. Die Interviews zeigen weiter, welche Voraussetzungen eine gelingende private Unterbringung erfordert: Hervorzuheben sind die umfassenden Formen von anspruchsvoller Care Arbeit, die von den Gastfamilien teilweise geleistet wurden. Um künftig Gastfamilien gewinnen zu können, wären eine bessere Unterstützung und eine engere Begleitung nötig, damit die Familien entlastet und vor Überforderung geschützt sind.
* alle Namen wurden geändert
Kontakt:
- Nadine Gautschi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Soziale und kulturelle Vielfalt
- Prof. Dr. Eveline Ammann Dula, Leiterin Institut Soziale und kulturelle Vielfalt
Artikel und Berichte:
Partner und Projekte:
- Schweizerische Flüchtlingshilfe: Gastfamilien für ukrainische Geflüchtete
- Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
- Migros-Kulturprozent
Literatur und weiterführende Links:
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