Flexibilität und stabile Beziehungen – ein Widerspruch?

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Fachperson berät Jugendlichen

Foto: istock.com/Georgijevic

Ein Schlüsselelement für den gelingenden Verlauf von Hilfen zur Erziehung ist die vertrauensvolle Beziehung zwischen Kindern, Jugendlichen sowie Familien und den Fachpersonen. Flexible Hilfen erlauben Beziehungen besonders individuell zu gestalten, sie stellen aber auch Herausforderungen dar.

Im Sog wachsender Unzufriedenheit mit den zunehmend spezialisierten Angeboten der Hilfen zur Erziehung, wird immer wieder deren Neuausrichtung diskutiert. Das starre Konzept von ambulanten, teilstationären und stationären Hilfen soll mit flexiblen Hilfen aufgebrochen werden. Diese sind durchlässig, anpassungsfähig und kombinierbar und folgen somit dem Prinzip «Hilfen aus einer Hand». Dieses Verständnis von Hilfen zur Erziehung bedeutet auf individuelle Bedarfslagen einzugehen, die Hilfen in der Lebenswelt der Klientel anzusiedeln und auf eine möglichst rasche Integration in Regelangebote hinzuarbeiten. Dadurch soll die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen im Jugendhilfesystem vermieden, die Integration gewährleistet und die lebensweltlichen Ressourcen als Ausgangspunkt der Hilfe  aktiviert werden.

Flexible Hilfen zur Erziehung: Eine Fallgeschichte

Marco ist 14 Jahre alt und wohnt vier Tage die Woche auf der Wohngruppe einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung, einmal pro Woche übernachtet er bei seiner Mutter und die Wochenenden verbringt er bei den Grosseltern. Marcos Mutter ist psychisch krank und daher unterschiedlich belastbar, was ihre Erziehungsfähigkeit und -kompetenzen beeinflusst. In den fünf Jahren der Hilfe wurde das Arrangement mehrmals angepasst. Die Unterstützung variierte zwischen verschieden intensiven, stationären und ambulanten Hilfen, wie einer Familienbegleitung oder der Unterbringung in einer Wohngruppe. Während der gesamten Hilfe haben Marco und seine Mutter die gleiche sozialpädagogische Bezugsperson. Diese prüft mit Mutter und Sohn regelmässig, ob das Hilfearrangement noch den Bedürfnissen entspricht. Die Bezugsperson fungiert für beide als Vertrauensperson. Da die Wohngruppe im gleichen Stadtteil wie die Wohnung der Mutter liegt, bilden die Schule und die Peers für Marco eine Konstante, unabhängig von den sich verändernden Hilfen. Er ist mit seiner gegenwertigen Lebenssituation zufrieden und kann die Ressourcen seiner drei Wohnsettings nach seinen Bedürfnissen nutzen.

Flexibilität als Kontinuitätsgarant

Dass Flexibilität ein Kontinuitätsgarant sein kann, zeigt sich bei Marco vor allem durch die institutionellen Rahmenbedingungen, die es der Bezugsperson ermöglichen, auf sich verändernde Bedarfslagen von Marco und seiner Mutter zu reagieren. Dabei gehen Anpassungen der Hilfe nicht mit einem Einrichtungswechsel oder einem Beziehungsabbruch einher. In diesem Hilfearrangement muss sich die Beziehung zwischen dem Jugendlichen und der Fachpersonen jedoch als flexibel veränderbar beweisen, um Marco Kontinuität zu geben. Entsprechend sind flexible Hilfen in hohem Mass auf vertrauensvolle, das heisst stabile und verlässliche Beziehungen zwischen Kindern, Jugendlichen, Eltern und Fachkräften angewiesen. Flexibilität kann also Kontinuität ermöglichen  und Kontinuität generiert wiederum die Voraussetzung um eine Vertrauensbeziehung zwischen Jugendlichen und Fachkräften aufbauen zu können. Durch die Ansiedlung der Hilfe im vertrauten sozialräumlichen Umfeld, kann Marco auch die Peerbeziehungen weiterhin pflegen. Diese Gleichaltrigenbeziehungen sind eine wichtige Ressource der Jugendlichen und können sich, sofern sie von den Fachkräften als solche gesehen werden, stabilisierend auf die Hilfe und die Beziehung zur Bezugsperson auswirken.

Was Stabilität und Verlässlichkeit bedeutet, kann nur im Einzelfall und auf der Basis der Hilfegeschichte und -phase beurteilt werden. Nichtsdestotrotz, ein wichtiges Merkmal flexibler Hilfen ist: die Kinder, Jugendlichen und Familien müssen sicher wissen, dass die Einrichtung bzw. die Bezugsperson auch ausserhalb der direkten Zusammenarbeit und nach Abschluss der eigentlichen Hilfe erreichbar bleiben.

Aufgrund der vertrauensvollen Beziehung stellt die Fachkraft Partizipationsmöglichkeiten bereit oder eröffnet sie. Marco und seine Mutter nutzen diese und bringen sich ein. Partizipation im Kontext flexibler Hilfen heisst für die Klientinnen und Klienten vor allem: sich an die Hilfe und Fachkraft zu gewöhnen sowie Hilfsangebote auszuprobieren. Dies setzt voraus, dass der Grad der Einmischung durch Fachkräfte für Kinder, Jugendliche und Familien kontrollierbar bleibt und sie die Hilfen als veränderbar wahrnehmen. Gelingende Partizipation bedingt auf der Seite der Bezugsperson, sich Zeit und die Anliegen der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen.

Nach bisherigen Evaluationen zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen standardisierten und flexiblen Hilfen zur Erziehung darin, dass Letztere in der Wahl des Zeitpunkts und des Ortes der Hilfeerbringung, der zeitlichen Intensität und der Frequenz variabel und anpassungsfähig sind. Diese bedürfnis- und bedarfsorientierten Hilfen sind im vorliegenden Fallbeispiel gut sichtbar.

Flexibilität als Instabilitäts- und Unsicherheitsfaktor

In dieser Fallgeschichte erweist sich Flexibilität als wesentliches Element, damit Marco gleichzeitig eine konstante Beziehung zur Betreuungsperson der Jugendhilfeeinrichtung sowie zur Mutter halten kann. Mit Flexibilität schwingen aber genauso Veränderungen, Unsicherheit und Instabilität mit. Wenn in Hilfen zur Erziehung keine konstante Beziehung gewährleistet werden kann, vermag Flexibilität, insbesondere in belastenden Lebenssituationen, kaum Stabilität und Kontinuität zu entfachen. Marco erkennt das Potential an drei verschiedenen Orten zu wohnen und verfügt über die Ressourcen, um dieses Potential zu nutzen. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern ressourcenärmere Kinder und Jugendliche mit solch flexiblen Settings überfordert sind, beziehungsweise wie zumutbar die häufige Anpassung der Hilfen ist und was die Beziehung zur Fachkraft auffangen kann.  Um flexible Hilfen zur Erziehung weiterzuentwickeln, braucht es daher mehr Erkenntnisse über Verläufe, Formen und die subjektiven Perspektiven der Akteurinnen und Akteure.

 


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