Knapp ein Viertel aller Berechtigten bezieht die zustehenden Sozialleistungen nicht. Dies ergibt eine Studie der BFH im Auftrag des Kantons Basel-Stadt zum Bezug verschiedener Bedarfsleistungen. Eine nachhaltige Sozialpolitik sollte sich daher auch mit den Hürden des Bezuges beschäftigen.

Für Haushalte mit wenig Einkommen stellen bedarfsabhängige Sozialleistungen eine wichtige Einkommensquelle dar. Sie eröffnen ihnen Handlungsmöglichkeiten und fördern dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ob die Leistungen diese Zielgruppe erreichen, ist jedoch in den wenigsten Fällen bekannt. Die entsprechenden Dunkelziffern werfen die Frage zu (un)gewollten Grenzen des Sozialstaates auf. Manch eine*r sieht darin einen Ausdruck der Reformen der letzten Jahrzehnte. In Grossbritannien oder Frankreich werden dazu bereits offizielle Statistiken erhoben. In der Schweiz weiss man weniger zum Thema. Das Bewusstsein, dass der Nichtbezug von Sozialleistungen überprüft werden sollte, nimmt aber zu.

Für den Kanton Basel-Stadt untersuchte die BFH nun die Zugänglichkeit von Prämienverbilligungen, Familienmietzinsbeiträgen und Ergänzungsleistungen von AHV-Rentenbeziehenden. Dazu ermittelte sie anhand verknüpfter Steuerdaten das Ausmass und die Betroffenheit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und führte 21 qualitative Interviews mit Betroffenen durch. Die Studie liefert so die schweizweit erste Nichtbezugsschätzung von Ergänzungsleistungen zur AHV.

Sozialleistungen werden nicht erschöpfend bezogen

Bei allen drei Sozialleistungen konnten Personengruppen ausgemacht werden, die rechnerisch gesehen Anrecht auf die untersuchten Leistungen haben, diese aber nicht beziehen. Bei den Ergänzungsleistungen zur AHV liegt der Nichtbezug bei 29 Prozent, bei den Familienmietzinsbeiträgen liegt er bei 23 Prozent. Bei diesen Instrumenten der Armutsbekämpfung im engeren Sinne ist somit ein Nichtbezug wahrscheinlicher als bei den Prämienverbilligungen, die für breitere Kreise der Bevölkerung gedacht sind. Mit 19 Prozent ist der Nichtbezug hier etwas seltener.

Durch eine sozio-ökonomische Analyse konnte festgestellt werden, dass der Nichtbezug besonders in der unteren Mittelschicht verbreitet und von der Bedarfslücke abhängig ist. Je kleiner die Bedarfslücke, also die Differenz zwischen erzieltem und dem maximal zu einem Bezug berechtigenden Einkommen, desto wahrscheinlicher ist ein Nichtbezug. Auch der Aufenthaltsstatus scheint einen Einfluss zu haben. So ist der Nichtbezug von Ausländer*innen ohne Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) rund doppelt so wahrscheinlich.

Gründe für den Verzicht sind vielfältig

Anhand von qualitativen Interviews mit 21 Betroffenen konnten wertvolle Hinweise zu den Gründen des Verzichtes auf Sozialleistungen gewonnen werden. Der Nichtbezug ist dabei im Kontext verschiedener Lebenslagen zu sehen. Er ist geprägt von persönlichen Einstellungen zu Konsum und Sozialstaat oder von befürchteten negativen Konsequenzen ‒ z.B. dem Verlust der Aufenthaltsbewilligung oder dem Zwangsverkauf von Eigentum.

Befragte Personen, die ein hohes Autonomiebedürfnis haben, verunsichert sind oder sich für ihre Situation schämen, beantragen keine Sozialleistungen, selbst wenn sie von ihrem Anspruch Kenntnis haben. Die befragten Personen verfügen über unterschiedliche Handlungsstrategien, den Nichtbezug zu kompensieren, z.B. ausgeprägt sparsame Alltagsausgaben oder zusätzliche Einsparungen. Durch Einschränkungen etwa bei Nahrungsmitteln, Kleidung oder Freizeitaktivitäten und vollständigen Verzicht auf Ferien, Coiffeur- oder Zahnarztbesuche versuchen sie, den Sozialleistungsbezug zu vermeiden. Private Hilfeleistungen durch das soziale Netzwerk haben ebenfalls einen hohen Stellenwert. Dadurch steht manchen der interviewten Betroffenen zum Beispiel kostengünstiger oder -freier Wohnraum zur Verfügung. Die private Unterstützung kann auch in Form von Geldbeträgen erfolgen. Einige der Befragten im Pensionsalter sind zudem weiterhin erwerbstätig, um so über zusätzliche Einkünfte neben der knappen AHV-Rente zu verfügen.

Diesen Personen, die den Sozialleistungsbezug durch alternative Handlungsstrategien umgehen, stehen Nichtbeziehende gegenüber, die sozial schlecht eingebettet sind, kaum auf private Unterstützung zählen können oder über wenig Kenntnisse zu administrativen Abläufen und Sozialleistungen verfügen. Deren Nichtbezüge gründen entsprechend eher auf fehlendem Wissen, administrativen Hürden, mangelnden Sprachkenntnissen oder akut belastenden, überfordernden Lebenssituationen.

Sozialpolitik muss sich den Nichtbeziehenden annehmen

Um Ungleichheiten zu vermeiden und bei Betroffenen langfristige Negativfolgen zu verhindern, sollte sich eine nachhaltige Sozialpolitik daher nicht nur um die Leistungsbeziehenden kümmern, sondern sich auch mit den Hürden des Bezuges auseinandersetzen. Im Rahmen der Projektarbeiten wurden folgende Empfehlungen zuhanden der Praxis erarbeitet:

  • Die Dokumentation der Sozialleistungen sollte nicht nur hinsichtlich des Bezuges, sondern auch hinsichtlich des Nichtbezuges standardisiert werden. Für dessen Eruierung sind periodische kantonale Datenanalysen notwendig.
  • Jeder Anspruch sollte den Berechtigten automatisiert gemeldet werden, um Benachteiligungen aufgrund mangelnder System- oder Sprachkenntnisse zu beseitigen.
  • Allgemeine Informationen zu verschiedenen bedarfsabhängigen Sozialleistungen sollten niederschwellig und breit zugänglich zur Verfügung stehen – z.B. in lokalen Quartierberatungsstellen. Dabei sollten schriftliche Informationen in einfacher Sprache sowie in Fremdsprachen aufbereitet werden.

 


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