Die Gesundheitsversorgung im Alter ist in Bewegung. Wir leben gesünder und werden älter, dennoch brauchen viele ältere Menschen Hilfe und Unterstützung. Der Pflege- und Betreuungsbedarf entsteht später im Leben, gestaltet sich dafür umso komplexer. Gerade Demenz und psychosoziale Problemlagen gewinnen an Bedeutung. Dies gilt aber nicht für alle, denn gesundheitliche Chancen und Risiken sind ungleich verteilt.
Die Schweiz bemüht sich, die Langzeitversorgung im Alter für die gesamte Bevölkerung in hoher Qualität zugänglich zu machen. Das benötigt Ressourcen, und diese werden in Zukunft nicht gleichermassen wie der Versorgungsbedarf wachsen. Es ist deshalb notwendig, über neue Formen der Pflegeversorgung und der Verteilung von Finanzierungslasten nachzudenken. Prävention und Gesundheitsförderung werden an Bedeutung gewinnen, sowie die Sicherstellung von ausreichendem Fachpersonal.
Die Pflegeversorgung ist im Wandel
Modelle zukünftiger Pflegeangebote fokussieren auf eine Optimierung der Versorgung im Privathaushalt durch einen Mix aus Grundversorgung, privatwirtschaftlichen Dienstleistern, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Angehörigen. Ebenfalls wachsen sollen Wohnangebote zwischen Privathaushalt und klassischem Altersheim. Zurzeit ist noch offen, ob sich diese Entwicklung im Rahmen der bestehenden Strukturen organisieren lässt oder ob die Lösung in einem zunehmend liberalisierten und individualisierten System liegt.
Fakt bleibt, dass Langzeitpflege im Alter kostet. Das macht sie nicht nur zum politischen Sorgenkind, sondern auch zu einem attraktiven Markt – nicht nur national, sondern auch transnational. Dabei stehen einerseits Kostenaspekte im Zentrum, die durch Import von Pflegepersonal oder Export von Pflegebedürftigen bearbeitet werden. Andererseits sind auch Qualitätsaspekte wie Personenzentriertheit oder Beziehungsstabilität wichtig.
Der Markt ist an lukrativen Dienstleistungen interessiert
Neben der Bezahlbarkeit ist die Qualität in der Langzeitversorgung im Alter die wichtigste Leitgrösse. Danach streben nicht nur gestandene Institutionen, sondern auch Nischenanbieter sehen darin eine besondere Chance. So entstehen gegenwärtig Pflege- und Betreuungsangebote, die sich auf Bedürfnisse spezifischer Zielgruppen im Alter ausrichten, die an massgeschneiderten Dienstleistungen interessiert sind. Dies sind oft lukrative Klientelsegmente mit beträchtlicher Kaufkraft, die sich einem spezifischen Lebensstil verpflichtet sehen oder besondere Pflegebedürfnisse haben. Gesellschaftliche Diversität wird in diesem Kontext zum Marktpotenzial.
Spezifische Angebote für sozioökonomisch schlechtgestellte Gruppen
Der Vielfältigkeit moderner, pluralisierter und individualisierter Gesellschaften muss in der Pflegeversorgung aber in viel weiterem Masse Rechnung getragen werden: Denn massgeschneiderte Versorgung ist nicht nur diversitätsangepasste Versorgung zum Wohle der Betroffenen, sondern auch eine präzisere Versorgung, die Folgekosten gering hält. Dies gilt insbesondere für sogenannt schwer erreichbare Zielgruppen mit tiefem sozioökonomischem Status. Diese Gruppen sind einerseits besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt und haben andererseits einen eingeschränkten Zugang zu Angeboten der Prävention, Gesundheitsförderung und gesundheitlichen Versorgung.
Auch für solche Zielgruppen entstehen gegenwärtig massgeschneiderte Pflege- und Betreuungsangebote, insbesondere im Bereich Migration. Migrantinnen und Migranten können besonders starken Belastungen und Zugangsschranken ausgesetzt sein. Im Gesundheitswesen braucht es deshalb eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Migration und Gesundheit und der Frage, wie das Versorgungssystem im Sinne der Chancengleichheit ausgestaltet werden muss. Und hier stellt sich die Frage, ob dazu Massnahmen im Rahmen der Regelversorgung ausreichen, oder ob es für besonders stark benachteiligte und schwer erreichbare Bevölkerungssegmente spezifisch massgeschneiderte Angebote braucht.
Wird die Besonderheit von Migrantinnen und Migranten überbewertet?
In den letzten Jahren rückte das Altern der Migrationsbevölkerung vermehrt ins Zentrum des Interesses. Aufgrund kollektiver Erfahrungen, gesellschaftlicher Hürden oder kultureller Besonderheiten liegt es auch nahe, diese als eine besondere Gruppe zu behandeln. Jedoch zeigen erste Untersuchungen, dass sich in den Perspektiven von Fachpersonen eine tendenzielle Überzeichnung des Fremdheitsaspektes feststellen lässt.
Während Diversitätssensitivität im Rahmen des pflegerischen Leitkonzepts der Personenzentriertheit eine Selbstverständlichkeit ist, liegt im Hinblick auf Migrantinnen und Migranten die problematisierende Fremdkonstruktion offenbar sehr nahe. Die BFH-Forschung Pflege will hier nun im Rahmen des BFH-Zentrums Soziale Sicherheit ansetzen und weiterforschen. Wie nehmen migrationsspezifische Versorgungsangebote die besonderen Bedürfnisse der anvisierten Zielgruppen wahr? Wie gehen diese Angebote mit Diversität um und wie kommen sie bei den Klientinnen und Klienten an? Und was lässt sich daraus für die Entwicklung der zukünftigen Regelversorgung lernen?
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Literatur und weiterführende Links:
- Bundesamt für Gesundheit: Gesundheitliche Chancengleichheit
- Bundesamt für Gesundheit: Migration und Gesundheit
- Bundesamt für Gesundheit (2016): Bericht über die Perspektiven der Langzeitpflege, Bern
- Bundesamt für Gesundheit (2016): NCD-Strategie – nichtübertragbaren Krankheiten vorbeugen, Bern
- Cattacin, Sandro, Antonio Chiarenza und Dagmar Domenig (2013): Equity standards for healthcare organisations: a theoretical framework. Diversity and Equity in Health and Care 2013; 10: 249-258.
- Curaviva Schweiz (2016): Das Wohn- und Pflegemodell 2030 von Curaviva Schweiz. Die Zukunft der Alterspflege. Bern: Curaviva Schweiz.
- Kwiatkowski, Marta und Daniela Tenger (2016): Fluid Care. Nachfragemarkt versus Wohlfahrtsstruktur. Im Auftrag von senesuisse. Rüschlikon: Gottlieb Duttweiler Institut.
- van Holten, Karin, Anke Jähnke und Iren Bischofberger (2013): Care-Migration – transnationale Sorgearrangements im Privathaushalt (OBSAN Bericht 57. Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.
- Razum, Oliver und Jacob Spallek (2014): Addressing health-related interventions to immigrants: migrant specific or diversity-sensitive? International Journal of Public Health vol. 59, issue 6: 893-895.
- Sommerhalder, Kathrin et al. (2015) Lebens- und Pflegequalität im Pflegeheim – Beschreibende Ergebnisse der Befragung von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen in der Schweiz, Bern: Berner Fachhochschule
- Soom Ammann, Eva und Corina Salis Gross (2011): Schwer erreichbare und benachteiligte Zielgrupen. Zusammenfassung und Empfehlungen. Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung, Zürich.
- Soom Ammann, Eva und Karin van Holten (2014): Migration und Alter: hier und dort. In: Passagen Forschungskreis Migration und Geschlecht (Hrsg.): Vielfältig alltäglich. Migration und Geschlecht in der Schweiz. Seismo Verlag, Zürich: 236-269.
- Soom Ammann, Eva, Gabriela Rauber and Corina Salis Gross (2016): The art of enduring contradictory goals: challenges in the institutional co-construction of a ‘good death’. In: Journal of Intercultural Studies 37/2, Special Issue „Intercultural negotiations around dying and death in Europe“: 118-132
- Torres, Sandra, Pernilla Agard und Anna Milberg (2016): The ‚Other’ in End-of-life Care: Providers’ Understandings of Patients with Migrant Backgrounds. Journal of Intercultural Studies 37: 2: 103-117.
- van Holten, Karin und Eva Soom Ammann (2016a): Grenzüberschreitende Dimensionen in der Langzeitversorgung. Pflegerecht 3/16: 162-165.
- van Holten, Karin and Eva Soom Ammann (2016b): Negotiating the potato: the challenge of dealing with multiple diversities in elder care. In: Schweppe, Cornelia and Vincent Horn (eds.): Transnational Aging – Current Insights and Future Challenges. New York: Routledge Series “Research in Transnationalism”: 200-216
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