Digitalisierung – eine weitere Benachteiligung für armutserfahrene Personen?

Foto: adobe-stock

Die Digitalisierung verändert viele Lebensbereiche, was armutserfahrene Personen herausfordert sowie die Kluft ihrer Benachteiligung verschärft. Die aktuelle ProDigitAll-Studie der Departemente Soziale Arbeit und Gesundheit zeigt die Gründe dafür auf und eröffnet Möglichkeiten, die Betroffenen zu unterstützen.

Digitale Technik vereinfacht nicht für alle Menschen den Alltag. Personen mit knappem und nicht gesichertem Einkommen haben häufig weder intakte digitale Geräte noch Möglichkeiten, diese regelmässig anzuwenden oder sich für die Anwendung weiterzubilden. Für sie ist beispielsweise schon das Lösen eines Zugtickets am Automaten herausfordernd. Ein Scheitern bei solchen digitalen Gehversuchen kann sogar als persönliche Niederlage wahrgenommen werden und bedeuten, dass entsprechende Automaten und Geräte zukünftig gemieden werden.

Den Menschen nicht vergessen

Um die Chancen und Hürden der Digitalisierung für die vulnerablen Gruppen armutserfahrener Personen und Personen mit schweren psychischen Erkrankungen zu erforschen, haben wir in einem interdisziplinären BFH-Projekt in einem ersten Schritt die nationale und internationale Forschungsliteratur aufgearbeitet. Anschliessend wurde untersucht, wie betroffene Personen diese Thematik selbst wahrnehmen und welche Unterstützungsmöglichkeiten ins Visier zu nehmen sind. Aus dem Projekt gingen folgende zentrale Befunde hervor.

Vielschichtige Herausforderungen

Die grundsätzliche Herausforderung ist, funktionierende Geräte mit Netzzugang zur Verfügung zu haben. Wenn den Personen das Gerät gehört, müssen sie es zudem Instand halten. Gerade armutserfahrene Personen verfügen oftmals nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um die Wartung der Geräte sicherzustellen.

Die Herausforderungen können in einem Kompetenzenmodell mit drei Kategorien dargestellt werden. Die Abbildung 1 zeigt das Kompetenzenmodell und veranschaulicht unter dem Begriff «System» als erste Voraussetzung, den beschriebenen Zugang zu Geräten. Weitere Herausforderungen betreffen das «Individuum». Erst wenn die Voraussetzungen dieser beiden Kategorien gegeben sind, können Massnahmen der Kategorie «Interaktion» greifen.

Die Kategorie «Individuum» verweist auf digitale und damit verwandte Kompetenzen, wie Informationen rasch verarbeiten zu können. Die Literatur und betroffene Personen nennen unter anderem fehlende Kenntnisse und gesundheitliche Einschränkungen als Hindernisse. Die Aussage einer betroffenen Person aus dem Workshop verdeutlicht dies: «Die vielen Informationen erfordern eine hohe Aufmerksamkeit. Ich kann diese nicht alle aufnehmen, insbesondere dann nicht, wenn es mir gesundheitlich nicht gut geht».

Diese Herausforderungen scheinen Ungleichheiten und Ausschlussmechanismen zu befördern. Verstärkt wird dies dadurch, dass Online-Affine aufgrund ihres schichtspezifischen Wissensvorsprungs stärker von technischen Neuerungen profitieren und sich somit noch weiter von vulnerablen Personengruppen entfernen. Zudem verstärken digitale Angebote die soziale Isolation, statt soziale Kontakte zu fördern, wie es für Armutsbetroffene und Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung nötig wäre.

Motivation ist der Schlüssel

Basis- und Selbstkompetenzen zur Bedienung der Geräte sind eine weitere wichtige Voraussetzung, um digitale Medien umfassend nutzen zu können: Sind die betroffenen Personen motiviert, digitale Geräte im Alltag einzusetzen? Sehen sie für sich darin einen Mehrwert? Eine mögliche Motivation hängt insbesondere von ihrem Vorwissen und den Weiterbildungsmöglichkeiten ab. Hier spielen ebenfalls Vorerfahrungen eine Rolle, das heisst, es ist abhängig davon, ob die Person bereits erfolgreich ein digitales Angebot genutzt hat. Damit die Motivation aufgrund eines ersten Erfolgs aufrechterhalten bleibt, muss die weitere Nutzung einen Mehrwert bringen. Hier ist es ein wichtiger Aspekt, ob die Personen bei der Handhabung unterstützt werden, etwa durch Familienangehörige, andere nahestehende Personen oder Fachpersonen. Besteht dagegen kein entsprechendes Umfeld, kumulieren alle bisher genannten Herausforderungen und Ausschlussprozesse.

Soziale Austauschmöglichkeiten werden sowohl online wie auch offline gewünscht. Der persönliche Kontakt kann zur Nutzung digitaler Medien motivieren. Dies bestätigen auch die befragten betroffenen Personen: «Ich ziehe es vor, an den Schalter zu gehen, beispielsweise bei der Bank oder der SBB. Der direkte Kontakt ist mir wichtig.»

Rolle von Fachpersonen und Peers

Fachpersonen aus dem Sozialwesen kommt eine zentrale Rolle zu. Sie können den Zugang zu digitalen Medien ermöglichen, Hemmschwellen abbauen und die selbstbestimmte Nutzung digitaler Medien fördern. Grundsätzlich sollten Fachpersonen zu diesem Zweck ihr eigenes Wissen über digitale Medien aktualisieren und ausweiten. Dazu sollte ihnen eine bessere technische Ausstattung finanziert werden. Allerdings ist der Arbeitsalltag von Fachpersonen im Sozialwesen äusserst dicht und eine Alltagsunterstützung von Betroffenen im Bereich digitaler Medien ist mangels Abrechnungsmöglichkeiten meist nicht vorgesehen.

Im Sinne einer Minimallösung sollten Fachpersonen des Sozialwesens betroffene Menschen darüber informieren können, wo sie entsprechende Unterstützungsangebote finden. Die Unterstützung durch Peers könnte hier besonders nützlich sein. Die Idee: Personen, die selbst von Armut oder psychischen Problemen betroffen sind, könnten entsprechendes Wissen aufbauen und die Zielgruppe beraten. Diese Hilfe wäre bei der Zielgruppe besonders akzeptiert und sehr niederschwellig.

Der nächste Schritt im Forschungsprojekt ist nun, konkrete Vorschläge zu formulieren, wie armutsbetroffene und beeinträchtigte Personen unterstützt werden können. Wir freuen uns daher, die Befunde an der Nationalen Tagung Gesundheit & Armut einem breiteren Publikum vorzustellen und zu diskutieren. Der im Rahmen der Tagung geplante Workshop bietet eine interessante Gelegenheit, die Vorschläge für mögliche Unterstützungsformen zu erweitern.

Eine ausführliche Fassung dieses Artikels finden Sie in der aktuellen impuls-Ausgabe.

 


Kontakt:

 

Artikel und Beiträge:

 

Projekte und Partner:

 

Literatur und weiterführende Links:

Beitrag teilen
2 Kommentare
  • Marius

    Antworten

    Die BKB hat kürzlich ihr Ebanking geändert. Meine eltern konnten fast 4 Wochen nicht auf das Ebanking zugreifen. Sie haben zwar ein Smartphone aber das ist wie eine Fernbedienung. Wenn ich es brauche, hole ich es. Nicht wie bei der neusten Generation ein Körperteil. Die BKB hat zwar eine Alternative, aber damit lässt es sich nur einloggen. Die QR-Rechnungen können damit nicht eingelesen werden. Ausserdem kostet das Teil noch 60.00. Der Kundenservice ist selbst bei einer Kantonalbank verschwunden und ich dachte die CS wäre nur an Boni interessiert. Die Digitalisierung bringt zwar Automatisierung und andere Vorteile, aber trotzdem konzentrieren sich die Leute nicht mehr auf ihre Kunden, obwohl sie mehr Ressourcen hätten. Die Menschlichkeit geht ebenfalls step by step weg.

  • Emanuela Chiapparini

    Antworten

    Besten Dank für Ihr Interesse an das Thema und Ihren Einblick in den Alltag Ihrer Eltern. Das sind Herausforderungen, die uns letzte Woche an der Tagung 5. Nationale Tagung Gesundheit & Armut
    Psychische Gesundheit von Armutsbetroffenen stärken – Barrieren in der Versorgung abbauen»: https://www.bfh.ch/de/aktuell/fachveranstaltungen/tagung-gesundheit-und-armut-2023/ ebenfalls herangetragen und diksutiert wurden. Unbestritten war bei allen Anwensenden im Workshop zum Thema «Digitalisierung und Armut» , dass dringend Lösungsansätze zu finden sind.

Schreiben Sie einen Kommentar

Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.