Digitale Hilfe für betreuende Angehörige: Neuenburg setzt neue Massstäbe

Illustration: Laura Dudler

Ein interdisziplinäres Team der Berner Fachhochschule entwickelte im Kanton Neuenburg eine App für betreuende Angehörige. Ziel ist, ein Informations- und Beratungsangebot anzubieten, das den vielfältigen Bedürfnissen betreuender Angehöriger und ihren Kompetenzen im Umgang mit digitalen Geräten entspricht.

Es braucht einen langen Atem, wenn man sich über längere Zeit regelmässig um eine Person in der Familie oder im nahen Umfeld kümmert, die krank oder in ihrer Autonomie eingeschränkt ist. Betreuende Angehörige riskieren, weniger am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, müde, erschöpft oder krank zu werden und finanzielle Einbussen zu erleiden. Damit sie gesund bleiben und ihre Tätigkeit als sinnstiftend erleben können, sind sie auf Hilfe angewiesen. Sie brauchen eine solidarische Gesellschaft, welche die Lebensqualität von betreuenden Angehörigen achtet und fördert.

In Neuenburg befasst man sich seit zehn Jahren mit der Frage, wie der Kanton zur gesellschaftlichen Solidarität beitragen kann. So bietet das Gesundheitsnetzwerk AROSS betreuenden Angehörigen seit dem Sommer 2021 eine telefonische Beratung an, und seit diesem Jahr fasst die App «approches» alle relevanten Angebote im Kanton zusammen und bündelt diese nach thematischen und regionalen Gesichtspunkten. In der App erhält man rasch einen Überblick, kann Angebote vergleichen und eine Auswahl treffen. Zudem können Angehörige ihren Aufwand und die Belastung dokumentieren und reflektieren. Telefonberatung und App bilden zusammen eine kombinierte Beratung, mit der man der Vielfalt der Betreuenden und Betreuungssituationen gerecht wird.

Vom betreuenden Ehemann bis zur umsorgenden Nachbarin

Hinter der App steht ein interdisziplinäres Team der Berner Fachhochschule, das in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsdienst des Kantons Neuenburg und dem Gesundheitsnetzwerk AROSS die App entwickelte. Dabei identifizierte das Team fünf Typen betreuender Angehöriger. Auf der einen Seite des Altersspektrums stehen pensionierte, oftmals hochaltrige Personen, die sich in einer Paarbeziehung um den erkrankten Partner oder die beeinträchtigte Partnerin kümmern und vielleicht selbst auch eine chronische Erkrankung haben. Auf der anderen Seite des Spektrums sind es Eltern eines Kindes mit Beeinträchtigungen.

Einer dieser Ideal-Typen – sogenannte Personas – ist zum Beispiel Daniel Favre. Er betreut seine Ehefrau, seit sie vor vier Jahren einen Unfall erlitt. Er ist beruflich Vollzeit tätig und hat zur Unterstützung seiner Frau ein Netzwerk von Betreuenden aufgebaut, auf das er während seiner Arbeitszeit und manchmal am Wochenende zurückgreifen kann. Am Morgen hilft er seiner Frau aus dem Bett und assistiert ihr beim Ankleiden und Frühstücken. Sobald er gegangen ist, übernimmt ein Team von Student*innen in Teilzeit-Anstellungen, die sich wechselseitig tagsüber um Frau Favre kümmern, für das Mittagessen sorgen und den Haushalt führen.

Daniel Favre, dessen Arbeitsplatz nur wenige Autominuten entfernt ist und der glücklicherweise auf einen entgegenkommenden Vorgesetzten zählen darf, ist jederzeit bereit einzuspringen, falls es ihn braucht. Am Abend kocht er das Abendessen, schaut mit seiner Frau zuweilen noch einen Film, bevor er ihr hilft, ins Bett zu gehen. Am Wochenende schaut seine Schwester manchmal zu ihr, damit auch er eine Pause machen kann. Dann geht er gerne mit Freunden auf eine Biketour. Beruf, Betreuung und Alltag in Einklang zu bringen, ist für ihn eine ständige Herausforderung.

Daniel Favre ist es sich berufshalber gewöhnt, mit Computer und Smartphone zu arbeiten. Von einer App für betreuende Angehörige wünscht er sich, dass sie alle relevante Information auf einer Plattform anbietet, damit ihm die mühsame und zeitaufwändige Suche nach den richtigen Diensten erspart bleibt. Besonders wichtig für ihn sind auch die Angaben zu Kosten und Entschädigungen, hat er doch mit den fünf Student*innen ein kleines Unternehmen aufgebaut, das es finanztechnisch zu verwalten gilt. Er ist überzeugt, dass ihm mit einer App der Start in die Angehörigenarbeit um vieles leichter gefallen wäre.

Die Mehrheit der Personen, die sich regelmässig um jemanden kümmern, stammt aus dem engen Familienkreis. Es gibt aber auch Nachbar*innen oder Freund*innen, welche die Rolle der betreuenden Angehörigen übernehmen. So zum Beispiel die sechzigjährige Cécile Dubois, die mit Yvette Robois im selben Haus wohnt und regelmässig bei der älteren Dame zum Rechten schaut. In den Jahren, in denen sie in der gleichen Nachbarschaft wohnen, hat sich zwischen den beiden eine schöne Freundschaft entwickelt. Beide sind kinderlose Singles und teilen viele Interessen. Seit Yvette Robois gebrechlicher ist, geht Cécile Dubois zwei-, dreimal pro Woche ein paar Stunden zu ihr, hilft ihr im Haushalt oder liest ihr die Zeitung vor. Auch die Rechnungen ordnet sie, leert den Briefkasten und hilft die Bettwäsche zu wechseln. Ihre Betreuungsarbeit kann sie in der Regel gut mit ihrer Teilzeitarbeit vereinbaren, was ihr aber zunehmend Sorge bereitet, ist die Frage, wer zu Yvette Robois schaut, wenn sie selbst für ein paar Wochen in die Ferien verreist.

Cécile Dubois fährt mit dem Zug zur Arbeit. Die Fahrt gibt ihr die Gelegenheit, auf ihrem Smartphone die Nachrichten zu lesen oder einen Anruf zu tätigen. Sie braucht das Gerät auch zum Fotografieren, aber zuhause legt sie es beiseite. Was sie sich von einer App für betreuende Angehörige wünschen würde, wäre Hilfe für die Planung der Zukunft. Wenn Yvette Robois gebrechlicher wird, wird sie mehr Hilfe brauchen. Wie muss sich Cécile Dubois diesen Verlauf vorstellen und wo kann sie Unterstützung holen? Sie wünscht sich von einer App Informationen, die sie auf die zunehmende Fragilität ihrer Nachbarin vorbereiten und aufzeigen, welche Hilfe künftig nötig ist und wo diese gefunden werden kann.

Bedürfnisorientiert Kommunikationskanäle anbieten

Obwohl betreuende Angehörige ihr Smartphone im Alltag ganz unterschiedlich nutzen, will die App «approches» sie alle unterstützen. Damit dies gelingt, enthält sie eine klare und verständliche Sprache, ist einfach in der Navigation und – besonders wichtig – sie ist mit Gesundheitsnetzwerk AROSS in ein bestehendes regionales Netzwerk eingebettet. Die Berner Fachhochschule analysiert nun, ob und wie das neue Angebote genutzt wird.

Dieser Artikel ist in einer längeren Version im September 2023 im Printmagazin «impuls» erschienen.


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