In einem Pilotprojekt befragte die BFH die Nutzer*innen eines Sozialdienstes in ihren Erstsprachen. In der Zufriedenheitsbefragung sollten alle eine Stimme erhalten und ihre Meinung kundtun können. Die ersten Eindrücke zeigen: Die Nutzer*innen suchen ehrliche Begegnungen – ohne Misstrauen.
«Was? Meine Meinung ist gefragt?»
Diese Frage, formuliert auf Türkisch, hörte ich während der telefonischen Befragungen oft. Eine simple Frage, die nachdenklich, manchmal fast irritiert klang.
Im Auftrag eines Sozialdienstes untersuchte die BFH, wie zufrieden die Nutzer*innen der Sozialhilfe und des Kindes- und Erwachsenenschutzes sind und ob sie Verbesserungsvorschläge haben. Soweit ein vertrauter Themenkomplex. Das Projekt wurde jedoch zum Anlass genommen, eine neue nachhaltige Erhebungsstrategie für solche Befragungen zu entwickeln: Die über hundert computergestützten Telefonbefragungen wurden in den Erstsprachen der Nutzer*innen durchgeführt.
Eine Stimme in der eigenen Sprache
Die Soziale Arbeit verfolgt das Ziel, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu sehen, zu verstehen und sie auf ihrem Weg zu unterstützen – sei dies in der direkten Zusammenarbeit oder durch die Entwicklung entsprechender Dienstleistungen. Menschen zu sehen und zu verstehen impliziert aber, dass ihnen eine Stimme gegeben wird. Wer sich hierzulande mitteilen will, muss dies in der Regel in einer Landessprache tun. Wer diese nicht beherrscht, läuft Gefahr, vergessen zu werden.
Indem die Befragungen neben Deutsch auch auf Albanisch, Arabisch, Tamilisch, Tigrinya und Türkisch durchgeführt wurden, hatten die Nutzer*innen die Möglichkeit, ihre Gedanken in derjenigen Sprache zu formulieren, in der sie sich am besten ausdrücken können. So konnten alle von ihren Erfahrungen berichten. Daher kamen verlässliche Rückmeldungen von sozioökonomisch benachteiligten Personen zusammen, die sonst ohne Stimme bleiben. Obwohl die Soziale Arbeit genau darauf angewiesen ist, stellt das Erreichen aller Nutzer*innen bis heute für die Forschung eine grosse Herausforderung dar.
Hemmungen überwinden
Die Aussage einer Frau ist für viele andere Befragungsteilnehmer*innen kennzeichnend: «Kritise etmek istemiyorum, orasi bizim ekmek teknemiz.» Aus dem Türkischen übersetzt, heisst dies:
«Ich will das Schiff, das mir Brot bringt, nicht beschiessen».
Es bedeutet, dass sie Mühe damit hat, jemanden zu kritisieren, der ihr Gutes tun möchte. Um sich ehrlich über den Sozialdienst zu äussern, mussten die Befragten zunächst ihre Hemmung ablegen. Sobald sie aber spürten, dass im Rahmen der Befragung der Raum dafür gegeben ist, gelang es den meisten, wertvolle Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge auszusprechen.
Bedürfnis nach Zwischenmenschlichem
Luft nach oben gebe es hinsichtlich der Kommunikation, die oft zu wenig transparent sei. Es werde zu wenig deutlich auf relevante Informationen hingewiesen, meinten die Befragten. Zufrieden ist der Grossteil damit, dass der Sozialdienst schnell und professionell auf ihre Anliegen reagiert und dass die finanzielle Unterstützung pünktlich eintrifft.
Mehrere der Befragten gaben jedoch an, dass beim Sozialdienst zu wenig Zeit für Zwischenmenschliches eingeräumt werde und dies ein Hindernis auf dem Weg zur Selbstständigkeit darstelle. Dieses Ziel haben praktisch alle gemeinsam: Sie haben den Anspruch an sich selbst, bald wieder vollständig auf eigenen Beinen zu stehen und nicht mehr auf Unterstützung angewiesen zu sein. Deshalb wünschen sie sich, dass sich die Begegnungen auf dem Sozialdienst so echt wie möglich anfühlen, von Wohlwollen geprägt und frei von Misstrauen sind. Sie wollen als Ganzes wahrgenommen werden mit ihrer Geschichte, ihren Lebensumständen und Problemen. Kurzum: Sie wollen keine Nummer im System, sondern Mensch sein.
Sie alle haben eine Sprache voller Wörter, mit der sie ihre Bedürfnisse ausdrücken können und die sie hüten wie einen Schatz. Dem Pilotprojekt sollen weitere Befragungen in Erstsprachen folgen. Dafür braucht es Sozialdienste, die Interesse an offenen, ehrlichen Rückmeldungen haben und sich nach ihren Nutzer*innen ausrichten möchten.
Wissen, wo der Schuh drückt – Nutzer-Befragungen für die Praxis
Das von der BFH entwickelte Modell für die Befragung von Nutzerinnen und Nutzern im Sozialbereich eignet sich für Organisationen in den verschiedensten Arbeitsfeldern. Befragt werden Nutzer*innen per Telefon in möglichst vielen Erstsprachen zu vier Dimensionen:
- Erfahrungen in Bezug auf zwischenmenschliche und fachliche Aspekte während des Unterstützungsprozesses
- Ergebnisse des Beratungsprozesses
- Einflüsse
- Verbesserungen
Haben Sie Interesse an einer Nutzer*innen-Befragung?
Gerne informiert Sie Prof. Dr. Simon Steger.
Kontakt:
- Prof. Dr. Simon Raphael Steger, Dozent, Departement Soziale Arbeit
- Nurhayat Sanli, Projektmitarbeiterin, Departement Soziale Arbeit
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