«Die gesundheitliche Abwärtsspirale stoppt beim Eintritt in die Sozialhilfe»

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Wer sich bei der Sozialhilfe meldet, hat oft bereits gesundheitliche Probleme. Dies zeigt eine Studie der BFH, die verschiedene Datensätze miteinander verknüpft. Was kann die quantitative Arbeit leisten? Was bedeuten die Befunde und was können Sozialdienste tun? Das Gespräch zwischen einem «Datenjongleur» und einem Sozialdienstkenner ordnet ein.

 

Dorian Kessler, Sie sind einer der Datencracks am Departement. Was motiviert Sie für diese Arbeit?

Dorian Kessler: Ich forsche zur Wirkung von Sozialversicherung und Sozialhilfe. Ich bin quantitativer Sozialwissenschaftler und beschäftige mich seit einigen Jahren mit grossen, administrativen Datensätzen, die über die ganze Bevölkerung erhoben werden.


Dr. Dorian Kessler forscht am Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik mit grossen Administrativdatensätzen.

Simon Steger, Sie sind im Gegensatz zu Dorian Kessler auch Sozialarbeiter. Wie ist Ihre Beziehung zu grossen Datenmengen?

Simon Steger: Ich bin begeistert von der Arbeit, die Dorian Kessler und seine Kolleg*innen machen. Es ist beeindruckend, was sie aus diesen riesigen Datenmengen herausholen.

Kessler: Mit den Daten zeigen wir Probleme auf, die menschliche Schicksale betreffen, und zeigen Handlungsbedarf und die Wirkung von Sozialpolitik auf. Dieses evidenzbasierte Wissen ist für die Praxis der Sozialen Arbeit höchstrelevant – wie zum Bespiel unsere aktuelle Studie zur Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden.

Was haben Sie mit dieser Studie herausgefunden?

Kessler: Ein Hauptergebnis war, dass sich die Sozialhilfebeziehenden in einem sehr schlechten Gesundheitszustand befinden. Sie gehen öfter zum Arzt und fühlen sich subjektiv kränker als die Gesamtbevölkerung.

Insbesondere psychische Erkrankungen sind häufig mit Langzeitarbeitslosigkeit und Langzeitsozialhilfebezug verbunden. Sehr bemerkenswert ist zudem, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands einsetzt, bevor die Leute in die Sozialhilfe kommen.

Warum ist dies wichtig?

Kessler: Der Befund zeigt, dass man schon vor dem Eintritt in die Sozialhilfe intervenieren müsste. Dies entlastet die Sozialdienste, da es den Leuten schon schlecht geht, wenn sie das erste Mal mit einem Sozialarbeiter oder einer Sozialarbeiterin in Kontakt kommen.

Steger: Das ist plausibel, da Sozialhilfebeziehende oft nicht unmittelbar nach einem kritischen Lebensereignis auf den Sozialdienst gehen, sondern erst nach einer gewissen Zeit.


Dr. Simon Steger forscht am Institut Organisation und Sozialmanagement zu Wirkung und Praxis der Sozialdienste.

Warum ist es relevant, wie es den Leuten geht, die Sozialhilfe beziehen?

Kessler: Schlechte Gesundheit ist nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern aus gesellschaftlicher Sicht auch mit Folgekosten verbunden. Wenn jemand krank ist, bleibt sie oder er länger in der Sozialhilfe und muss allenfalls eine IV-Rente beziehen. Gesundheitsprobleme reduzieren die Fähigkeit der Leute, ihre Existenz zu sichern.

Steger: Und wenn eine bestimmte Bevölkerungsgruppe überproportional häufiger gesundheitliche Probleme hat, ist das zudem ein soziales Problem.

In der Schweiz haben alle eine Krankenversicherung und der Gesundheitsstandard ist hoch. Warum gehen die Leute nicht zum Arzt?

Steger: Es stimmt schon: die obligatorische Krankenversicherung, Selbstbehalte und Franchise sind in der Regel durch die Sozialhilfe gedeckt. Aber der entscheidende Punkt ist hier nicht der Moment des Eintritts in die Sozialhilfe. Wir haben schon davor das Phänomen, dass die Leute in einer finanziellen Notlage beispielsweise wegen einer hohen Franchise auf eine Behandlung verzichten, da sie die Kosten selbst tragen müssten.

Was sind die Gründe, dass Menschen in Not auf den Gang zu Ärzt*innen verzichten?

Kessler: Unter anderem könnten administrative Hürden eine Rolle spielen. Die gibt es auch in der Sozialhilfe. Es gibt Gemeinden, in denen Sozialhilfebeziehende Arztrechnungen vorausbezahlen müssen. Dazu kommt, dass formale Prozesse für Menschen in einer «Belastungsspirale» oft zu kompliziert sind. Sie haben andere Probleme und versuchen zum Beispiel den Schmerz in der Lunge zu ignorieren.

Wusste man bislang denn nicht, dass es Langzeitbeziehenden schlecht geht?

Kessler: Doch, dies zeigten bereits frühere Studien. Wir haben nun untersucht, wie es ihnen geht, bevor sie in die Sozialhilfe kommen und sehen, dass es ihnen schon vor Eintritt in die Sozialhilfe gesundheitlich schlecht geht.

Viele der Beziehenden sind stark angeschlagen und die Probleme nehmen stetig zu. Aber sobald sie Sozialhilfe erhalten, stabilisiert sich die Situation und die gesundheitliche Abwärtsspirale wird unterbrochen.

Wie ist es, wenn sich jemand von der Sozialhilfe ablösen kann?

Kessler: Dann macht der Gesundheitszustand richtige Sprünge! Wobei aus den vorliegenden Daten nicht ersichtlich wird, was zuerst kommt: Schaffen sie den Austritt, weil es ihnen besser geht? Oder geht es ihnen besser, weil sie den Austritt schaffen?

Was können Sozialarbeitende auf dem Sozialdienst tun, wenn sie realisieren, dass eine Person gesundheitliche Probleme hat?

Steger: Oft werden Informationen zur Gesundheitssituation eingeholt, sobald jemand einen Antrag auf Sozialhilfe stellt. Man klärt etwa, ob die Person arbeitsfähig ist, einen Hausarzt hat oder ob eine Anmeldung bei der IV besteht.

In der Sozialen Arbeit ist das Bewusstsein vorhanden, dass Gesundheit nebst der körperlichen und psychischen auch eine soziale Dimension hat. Im Integrationsprozess wird die Gesundheit idealerweise berücksichtigt.

Die Ziel- und Handlungsplanung dient dazu, dass betroffene Personen wieder am beruflichen und sozialen Leben teilhaben. Der Gesundheitszustand ist ein wichtiger Bestandteil dieser Planung. Die Situation ist manchmal jedoch diffus und komplex. Eine Person hat vielleicht mehrere gesundheitliche Probleme, körperliche und psychische Leiden. Wie soll die Fachperson dies einschätzen, wenn z.B. keine klare ärztliche Diagnose vorliegt?

Was würde die Situation verbessern?

Steger: Ich sehe die Lösung im interdisziplinären Austausch: Sozialarbeitende und medizinische Fachpersonen können solche Situationen nur gemeinsam beurteilen, weil Gesundheit wie gesagt verschiedene Dimensionen hat – und eben auch eine soziale. Eine weitere Möglichkeit ist die Zusammenarbeit von Sozialdiensten und Hausärzt*innen in einer Gemeinde oder der Einsatz von Sozialarbeitenden in Hausarztpraxen. Ein Weg sind auch Vertrauensärzt*innen von Sozialdiensten oder Versicherungen.

Was kann man tun, bevor die Menschen in die Sozialhilfe kommen?

Kessler: Oft beziehen die Betroffenen nach dem Jobverlust Arbeitslosenentschädigung und wenn sie ausgesteuert werden, leben sie vom Vermögen. Irgendwann sind die Reserven aufgebraucht und sie kommen in die Sozialhilfe. Daher könnten schon die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) Prävention betreiben, indem sie mit Mediziner*innen zusammenarbeiten. Unsere Studie zeigt, dass sich die Gesundheit der Leute nach der Aussteuerung nicht mehr massiv verschlechtert. Die Aussteuerung ist also nicht der kritische Moment. Um frühzeitig zu reagieren, wären davor ebenfalls Massnahmen zu ergreifen.

 

Eine ausführliche Fassung dieses Interviews finden Sie in der aktuellen impuls-Ausgabe


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