Demenz und Pflege: «In einfachsten Situationen ist Selbstreflexion wichtig»

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Einst selbst demenzkrank zu sein, ist keine abwegige Vorstellung angesichts der allgemein hohen Lebenserwartung. Droht aber mit dem Schwinden der geistigen Fähigkeiten der Verlust der persönlichen Würde? Sie zu achten erhält in einem neuen Training für Pflegefachpersonen besonderes Gewicht: im konkreten Umgang mit einem an Demenz erkrankten Menschen.

Es ist ein andersgeartetes Qualifizierungsangebot, das das Institut Alter im zweijährigen Forschungsprojekt «Shape D» für Pflegefachpersonen entwickelt hat. Nicht das objektive Fachwissen steht im Vordergrund, sondern die Selbstreflexion. Genauer: das subjektive Erfahrungslernen in der Beziehung zu demenzkranken Personen.

Das Training gründet auf der Theorie des Lernens über die direkte Erfahrung und deren Reflexion. Zusätzlich zur Wissensvermittlung und zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch stossen praktische Übungen zur Selbstreflexion der persönlichen Haltung und der eigenen Handlungsstrategien an. Eine Pflegefachperson soll so in der Interaktion mit einem demenzkranken Menschen mehr Handlungsmöglichkeiten erkennen. Die prüfende Selbstbetrachtung dient letztlich dem Ziel, die Würde eines Menschen mit Demenz zu wahren.

Von September bis Dezember 2016 wurde das Training in fünf Langzeitpflege-Institutionen durchgeführt und evaluiert. Im Interview schildert Pflegeleiter Remo Stücker seine Erfahrungen mit dem neuen Weiterbildungsangebot.

Was ist Ihnen im Umgang mit Ihren Bewohnerinnen und Bewohnern im Kompetenzzentrum Demenz besonders wichtig?

Wenn eine demenzbetroffene Person weinend auf mich zukommt und ich frage sie, «was ist los?», ist das der falsche Ansatz. Sie möchte keine logische Lösung von mir haben, sondern zunächst emotional verstanden werden. Bei Menschen mit Demenz nehmen im Verlauf der Krankheit zwar die kognitiven Fähigkeiten ab. Ihr emotionales Erleben bleibt aber bestehen. Sie fühlen sich dort Zuhause, wo sie in ihren Gefühlen verstanden werden. Uns ist deshalb wichtig, dass unser Pflegepersonal spezifisch ausgebildet ist, um die Gefühlswelt der Bewohnenden einbeziehen zu können. Ausserdem bieten wir ihnen viele emotional erlebbare Aktivitäten an, zum Beispiel in unseren «Sinnesoasen».

Remo Stücker ist Leiter Pflege im Kompetenzzentrum Demenz im Domicil Bethlehemacker

Was hat Ihnen das Shape-D Training gebracht?

Vor allem von den konkreten Fallbeispielen, welche wir auf Video aufgenommen und analysiert haben, konnte ich vieles für die Praxis mitnehmen. Zum Beispiel bin ich oft ziemlich schnell in der Institution unterwegs.

Wenn dann ein Mensch mit Demenz auf mich zukommt, reagiert er anders auf mich. Jetzt merke ich eher, dass ich mit den Gedanken an einem anderen Ort war und muss mir sagen, dass ich gerade viel zu schnell war.

Mir hat auch gut gefallen, dass wir über alle Ausbildungsstufen zusammen am Training teilgenommen haben. Im Austausch mit einer Assistenzpflegeperson habe ich zum Beispiel bemerkt, dass sie besonders viel neues Praxiswissen erhalten hat. Die diplomierten Pflegepersonen haben ihr Wissen auffrischen können und neue Aspekte erhalten.

Inhaltlich hat mir das Interaktionsmodell sehr gut gefallen: Ich stehe auf Augenhöhe mit der demenzbetroffenen Person, ich reduziere sie nicht auf ihre Krankheitssymptome. Beide Interaktionspartner sind Sender und Empfänger von Botschaften. Das Interaktionsmodell hilft mir, in der Praxis genauer hinzuschauen: Was habe ich gemacht? Womit war mein Gegenüber beschäftigt? Konnte ich die Interaktion aufnehmen? Wie ist die Umgebung, ist es zu laut? Das Modell dient quasi als Reflexionsinstrument und dazu, andere Handlungsmöglichkeiten für künftige ähnliche Situationen abzuleiten.

Was hat das Training bei Ihrem Team bewirkt?

Ich habe bemerkt, dass sie achtsamer mit unseren Bewohnerinnen und Bewohnern umgehen. Sie nehmen kleine nonverbale Signale stärker wahr. Sie setzen auch unsere Angebote für emotionales Erleben bewusster ein. Ich denke, dass das Interaktionsmodell auch ihnen noch mehr Anstoss gegeben hat, sich im Arbeitsalltag im Umgang mit demenzkranken Menschen zu reflektieren. Das gehört zwingend zu einer professionellen Haltung. Das Interaktionsmodell eignet sich wegen seiner Einfachheit auch dazu, diese Reflexion im Alltag zu integrieren.

Warum ist Selbstreflexion in diesem Berufsfeld so wichtig?

Man kann verschiedenste Methoden für den Umgang mit demenzkranken Menschen lernen, aber schliesslich sollte man in der Lage sein sich zu reflektieren, sonst bringt das alles nichts. Wenn eine Situation nicht gelungen ist, kann man entweder sagen, die Person hat es absichtlich gemacht, sie hat etwas gegen mich, oder man kann sich selbst fragen und zu verstehen versuchen, was man in der Situation anders hätte tun können. Wie wecke ich am Morgen einen Bewohner? Mache ich Licht und gehe sofort an die Pflege oder lasse ich ihn erst einmal langsam erwachen? In einfachsten Situationen ist diese Selbstreflexion wichtig. Man muss sehr flexibel und ruhig sein, um adäquat auf eine Situation reagieren zu können.

Haben Sie ein weiteres konkretes Beispiel für eine Interaktion, die durch Selbstreflexion anders verlaufen kann?

Das Thema Essen ist beispielsweise zentral in unserem Alltag. Unsere Bewohnenden benötigen Unterstützung beim Essen. Eine Pflegeperson hat mir erzählt, dass sie der Bewohnerin jetzt zuerst den Löffel zeigt, bevor sie ihn zu ihrem Mund führt. Das haben wir im Training angeschaut. Wenn man den Löffel von unten zu schnell zum Mund führt, wollen Menschen mit Demenz häufig nicht essen. Wenn wir die Utensilien zuerst zeigen, essen und trinken sie eher. Wir versuchen sie in den kleinen alltäglichen Dingen besser zu verstehen. Das trägt wesentlich zu ihrer Lebensqualität bei.

 

Hintergrund zum Projekt SHAPE-D: Training und Studie

Das Training umfasst vier halbtägige Lerneinheiten, die im Abstand von je drei Wochen durchgeführt werden. Dabei lernen die Teilnehmenden ein Interaktionsmodell, dessen Komponenten schrittweise gemeinsam erarbeitet werden. Zwischen den Trainingseinheiten führen die Teilnehmenden ein Lernjournal, das die Verankerung der Trainingsinhalte im Alltag unterstützen soll.

Personenorientierung: Am ersten Halbtag geht es um die Selbstwahrnehmung der Pflegeperson, um ihre Wahrnehmung des Menschen mit Demenz und um die Begegnung auf Augenhöhe.

Kommunikation: Im Zentrum des zweiten Halbtags stehen der Austausch zwischen Pflegepersonen und Menschen mit Demenz sowie die Besonderheiten in der Kommuni-kation mit Menschen mit fortgeschrittener Demenzerkrankung.

Umgebungsgestaltung: Die Interaktion zwischen der Pflegeperson und dem Menschen mit Demenz findet in einer materiellen und in einer sozialen Umgebung statt. Auf welche Weise diese die Interaktion beeinflussen, ist Thema des dritten Halbtages.

Integration: Am letzten Halbtag werden die Komponenten des Interaktionsmodells integriert. Gemeinsam werden Strategien zur längerfristigen Verankerung der Trainingsinhalte im Arbeitsalltag erarbeitet.

Zur Evaluation wurde das Training in fünf auf demenzkranke Menschen spezialisierte Institutionen im Kanton Bern durchgeführt. Die insgesamt 34 Trainingsteilnehmenden wurden zusammen mit einer Referenzgruppe an drei Zeitpunkten befragt. Die erste Befragung fand unmittelbar vor Trainingsbeginn statt, die zweite unmittelbar nach Trainingsende und die letzte sechs Monate nach Abschluss des Trainings.

Das Projekt «Shape-D – Stärkung der Handlungskompetenzen von Pflegepersonen in der Interaktion mit Menschen mit Demenz» wurde von der Schweizerischen Alzheimervereinigung, der Lindenhofstiftung Bern, der Ebnet Stiftung und der Hedwig Widmer Stiftung gefördert.


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