Auf einer mehrwöchigen Studienreise durch die Spitäler Japans konnte der Lean Healthcare-Experte Oliver Mattmann das japanische Gesundheitswesen analysieren und einen neuen Blick auf das Schweizer Gesundheitssystem erlangen. Dabei standen nicht die Gesundheitsversorgung, die Qualität oder die Kosten im Vordergrund, sondern die Verbesserungsleistung.
Deutschland, UK, USA, Österreich, die Schweiz und viele andere Länder ächzen über die stetig steigenden Kosten im Gesundheitssystem. Einige Spitäler und Kliniken starteten mit grossem Erfolg ein Lean Management, andere haben dies zwar versucht, sind dabei aber gescheitert. Was ist der Schlüssel zur erfolgreichen Einführung, Etablierung und zum Ausbau von Lean Management im Spital- und Klinikbetrieb? Wie kann die Verbesserungsleistung bewertet werden? Welche Chancen und Vorgehensweisen bietet das «Ursprungsland» Japan und wie wird dort mit «Kaizen» (s.u.) und Verbesserungen umgegangen? Im Rahmen einer mehrwöchigen Studienreise im Februar und März 2018 wurden diese Aspekte genauer untersucht.
Lean Management, Lean Healthcare oder Lean Hospital ist ein umfassender Denkansatz zur stetigen Reduktion nicht werterhöhender Tätigkeiten in der Arbeitsorganisation. Dabei steht die Patientin, der Patient im Zentrum. Aus deren Sicht werden die Tätigkeiten und Arbeitsschritte nach Wertschöpfung und Verschwendung bewertet. Bereits 1947 startete Toyota erfolgreich mit der Reduktion von Verschwendung im Arbeitssystem und hat dabei ein einmaliges und überaus erfolgsversprechendes Management- und Wertschöpfungssystem aufgebaut. Diese Grundsätze werden seit einigen Jahren auch in Spital- und Klinikbetrieben in angepasster Form angewendet. Dabei spielen tägliche, kleine, mittlere und grosse Verbesserungen eine wichtige Rolle.
Verbesserungsleistung im Vergleich
Die Verbesserungsleistung zeigt den Stand und Reifegrad einer Organisation an, also auf welchem Niveau sich die Organisationsentwicklung befindet. Sind Veränderungen nicht an der Tagesordnung und werden Probleme nicht als Chance anerkannt, dann ist diese Organisation noch auf einem tiefen Niveau. Auf der Studienreise standen folgende Bewertungskriterien im Zentrum:
- Verbesserungsrhythmus: Wie häufig wird verbessert und wie viel Zeit wird dafür aufgewendet?
- Verbesserungsreichweite: Welche Bereiche und Personengruppen arbeiten an Verbesserungen und wen erreichen sie?
- Verbesserungsintegration: Wer führt auf welchen Hierarchiestufen die Verbesserungen durch und wer ist für die Verbesserung verantwortlich?
- Verbesserungsresultate: Welche Ergebnisse werden erzielt?
- Verbesserungskultur: Wie gehen die Mitarbeitenden mit Problemen, Abweichungen und Verbesserungschancen um?
Aufgrund dieser Kriterien wurden fünf Kliniken in Japan untersucht und bewertet. Die folgende Tabelle enthält die Ergebnisse aus der Auswertung der Gespräche mit den Führungskräften und Mitarbeitenden der Spitalorganisation.
Japan | Schweiz | |
---|---|---|
Bekanntheitsgrad | Kaizen als Methode nur teilweise etabliert
Lean Management unbekannt |
Kaizen eher unbekannt
Lean Management besser etabliert, unterschiedliche Einschätzungen |
Rhythmus | Wenige und sehr lange Verbesserungszyklen (1-5 TQM-Zyklen pro Jahr, die meist über 6 Monate dauern), kleine Verbesserungen | Häufig (zu) viele parallele Projekte ohne etablierten Rhythmus |
Reichweite | Vorwiegend in Support- und Pflegeprozessen
Direkte Leistungserbringer fast vollumfänglich ausgeschlossen |
Vorwiegend pflegenahe Bereiche und Notfallbereich
Schrittweise Integration der Ärzteschaft und der Administration |
Integration | Hauptsächlich Pflege- und Apotheken-Mitarbeitende
Keine bis wenig Medizinerinnen und Mediziner Distanz zwischen Direktion und Mitarbeitenden, viel Teamwork |
Sämtliche Spitalmitarbeitende
Teilweise wenig Medizinerinnen und Mediziner Direktion und Geschäftsleitung häufig mittels anfänglichem Workshop beteiligt |
Resultate | Wenig publizierte Resultate
Keine fundierte Nachhaltigkeitsprüfung |
Teilweise zusammen mit Verbesserungsvorschlägen publiziert
Wenig Resultate zu Systemleistungen |
Kultur | Verbesserungen von der Unterstützung der Führungskraft abhängig, zumal der Respekt ihnen gegenüber sehr gross ist | Keine etablierte Verbesserungskultur – u.a. aufgrund hoher operativer Belastung und veränderungskritischer Haltungen |
Stärken | Fokus auf Patientinnen- und Mitarbeitersicherheit
Standards werden akzeptiert, teilweise sogar vorausgesetzt |
Fokus auf Leistungsverbesserung des Systems |
Schwächen | Festhalten an bestehenden Strukturen | Innovative und technologische Lösungen – teilweise kostenintensiv
Lösungsentwicklung statt Erkennen der Problemursache |
Was ist also der Schlüssel zur erfolgreichen Einführung und Etablierung eines Lean-Managements und dessen Ausbau im Spital- und Klinikbetrieb? Vier Faktoren können erklären, weshalb Organisationen bei der Einführung eines Lean Managements respektive bei der Erhöhung ihrer Verbesserungsleistung scheitern:
- «Wir haben keine Zeit»
Ohne geplanten Verbesserungsrhythmus werden sich Organisationen nicht weiterentwickeln. Weltklasse-Unternehmen investieren 10 Prozent in die Verbesserungen und weitere 10 Prozent in Trainings und Schulungen der Mitarbeitenden. Wer besser werden will, muss Zeit investieren. - Führungskräfte, die es nicht vorleben
Veränderungen erfolgen durch die Führungskraft und können nicht an Stabsstellen delegiert werden. Führungskräfte müssen vorangehen, nicht nur «dahinterzustehen». - Unstrukturiertes oder kein Vorgehen
Wer besser werden will, braucht eine Strategie und einen Plan, damit die jährlichen Verbesserungschancen eingeplant und strukturiert werden. Ohne Planung der Verbesserungsleistung sind Verbesserungen bestenfalls ein «Nebenprodukt» der täglichen Arbeit. - Ungenügender Respekt den Mitarbeitenden gegenüber
Den Mitarbeitenden gebührt grosser Respekt. Lean Management und Kaizen beziehen sich auf eine langfristige Entwicklung der Organisation. Ohne gegenseitigen Respekt werden die Mitarbeitenden eher nur eine Verbesserungswelle unterstützen, als an der Gesamtentwicklung der Organisation mitzuwirken.
Werden diese vier Faktoren ausreichend berücksichtigt, steht es um die Chancen auf eine erhöhte Verbesserungsleistung gut.
Was bedeutet…
Kaizen – Veränderung zum Besseren (aus dem Japanischen)
Schrittweise Verbesserung durch jeden an jedem Ort und jeden Tag. Das Konzept ist in der westlichen Wirtschaft unter dem Begriff Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP) bekannt.
TQM – Total Quality Management
Qualität als umfassendes Systemziel: Angelehnt an Kaizen ist TQM ein ganzheitliches Konzept, mit dem in allen Unternehmensbereichen und auf allen Ebenen Qualität als jederzeit angestrebtes Ziel integriert wird.
QC – Qualitätszirkel (aus dem Englischen: Quality Circle)
Qualitätszirkel sind ein klassisches Kaizen-Element. Innerbetriebliche, interdisziplinäre Arbeitsgruppen aus (wenigen) Mitarbeitenden der gleichen Hierarchiestufe analysieren problematische Themen und entwickeln Problemlösungen. Die Verbesserung der Qualität, aber auch der Leistungspotenziale der Mitarbeitenden sind die Ziele.
Kontakt:
Literatur und weiterführende Links:
- Angerer A, Brand T, Hollenstein E, et al. Lean Healthcare Transformation Body of Knowledge. 1. Auflage. Zürcher Hochschule für angewandete Wissenschaft; 2016.
- Graban M. Lean Hospitals – Improving Quality, Patient Safety and Employee Satisfaction. New York: Productivity Press; 2009.
- Imai M, Brian H. Gemba Kaizen: Permanente Qualitätsverbesserung, Zeitersparnis Und Kostensenkung Am Arbeitsplatz.; 1999.
- Ishikawa K. What Is Total Quality Control? The Japanese Way. Tokyo, Japan: Prentice Hall Direct; 1988.
- Lafortune G (OECD HPU), Morgan D (OECD HPU). OECD Länder kämpfen mit steigenden Gesundheitsausgaben. 2018.
- Leancom GmbH. Einführung Weltklasse Wertschöpfungssystem und deren Herausforderungen. Zug, Switzerland; 2017.
- Lindsey G. Healthcare The Lean prescription , powerful medicine for our ailing healthcare system. Healthcare. 2015;3(2):119-120.
- Ohno T. Toyota Production System beyond Large Scale Production. Portland: Productivity Inc.; 1978.
- Takeda H. Das Synchrone Produktionssystem. 7. Auflage. Tokio, München: Verlag Franz Vahlen GmbH; 1990.
- Takeda H. QiP Qualität Im Prozess. 1. Tokio, Japan: Finanzbuch Verlag GmbH München; 2009.
1 Kommentare
Christoph Golz
Herzlichen Dank für den Beitrag. Mir scheint jedoch gerade bei einer Implementierung solcher Konzepte, welche zudem den Ursprung nicht im Gesundheitswesen haben, eine kritischere Betrachtung grundlegend. Sie haben zwar im tabellarischen Vergleich die Kategorie „Kultur“ angesprochen, doch ist damit wohl eher die Betriebskultur gemeint. Mir fehlt insbesondere ein Kulturvergleich beider Gesellschaften – Individualität; Entscheidungsfreiheit etc. Aus der Literatur geht klar hervor, dass dies einen wesentlichen Einfluss auf die Wahl der Herangehensweise sowie auf eine erfolgreiche Implementierung hat (vgl. Hofstede et al., 2010). Zudem gibt es aus meiner Sicht wichtige Faktoren, die beim Entscheid einer Einführung von Lean in Gesundheitsorganisationen, neben der Produktivitätssteigerung, ausschlaggebend sein sollten. Was ist mit den Indikatoren „patient outcome“ und „staff outcome“? Ein überzeugender Nachweis der Effekte ist noch ausstehend. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse des Cochrane Reviews: http://cochranelibrary-wiley.com/doi/10.1002/14651858.CD012831/full