Das grosse Schweigen

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Foto: istock: natasaadzic

Bis 1981 wurden in der Schweiz zehntausende Kinder und Jugendliche auf Bauernhöfen verdingt oder in Einrichtungen und Pflegefamilien fremdplatziert. Die Betroffenen verschwiegen dies vielfach selbst gegenüber ihren eigenen Kindern. Wie ist es, wenn die eigenen Eltern nicht über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen?

Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erlitten oft schlimme Gewalt und Misshandlungen. Viele von Ihnen kämpften ein Leben lang mit den gesundheitlichen und ökonomischen Folgen dieser biografischen Zäsuren. Die Thematik war in der Gesellschaft jahrzehntelang ein Tabu und politisch schlicht inexistent. Auch die Betroffenen selbst schwiegen oft – aus Scham, aus Angst vor Stigmatisierung, weil ihnen die Worte fehlten, oder um andere nicht zu belasten. Es ist eine neue Entwicklung, offener darüber zu sprechen. So machen nun die wissenschaftliche Aufarbeitung, zahlreiche autobiografische Erzählungen und filmische Auseinandersetzungen der letzten Jahre die Folgen erkennbar.

In unserer Studie, die im Rahmen des Nationalfondsprojektes «Fürsorge und Zwang» realisiert wurde, führten wir mehrstündige Interviews mit erwachsenen Kindern von Betroffenen. Sie berichteten von belasteten Kindheiten, in denen sie Gewalt, schwierige Elternbeziehungen und erneute Fremdplatzierungen erlebten. Immer wieder erzählten sie auch, dass sie über die Vergangenheit der Eltern «eigentlich gar nichts wüssten» oder dass diese ein «Tabu» gewesen sei. Eine Teilnehmerin beschrieb die Familie ihrer Mutter als ein «schwarzes Loch». In nahen Beziehungen gehen wir oft intuitiv davon aus, dass ein bedeutungsvolles Thema, das verschwiegen wird, nicht existiert. Die Interviews zeigten jedoch sehr deutlich, wie wenig dies stimmt.

Schweigen bedeutet, in vagen Andeutungen zu sprechen

Interessanterweise wurde sogar in schweigenden Familien gesprochen – einfach sehr wenig, in vagen Andeutungen. Zum Beispiel wussten die Nachkommen, dass die Mutter eine «schlimme Kindheit» erlebte, der Vater «keine Liebe erfahren hat» als Kind, oder dass diese nicht bei den biologischen Eltern aufgewachsen sind. Gleichzeitig wurde eine offene Kommunikation vermieden. Was genau Schlimmes passiert ist, wie es den Eltern damals erging oder wie die Situation in der Herkunftsfamilie war, wurde konsequent verschwiegen und Nachfragen wurden vehement abgeblockt.

Das Verschwiegene ist non-verbal präsent

Sehr eindrücklich beschrieben die Nachkommen, wie präsent die Vergangenheit der Eltern dennoch war. So berichteten sie von unterschiedlichsten Situationen und Ereignissen, die sie mit der dunklen Vergangenheit der Eltern in Verbindung bringen. Sie erzählen zum Beispiel von einer beklemmenden Atmosphäre daheim, von einer Mutter, die kaum lachte, von diffusen Schuld- oder Angstgefühlen gegenüber den Eltern, von Narben an den Körpern der Eltern oder von rätselhaften Fotografien aus deren Kindheit.

Deutlich wird, dass das Schweigen emotional belastet. Die Nachkommen müssen mit Ahnungen umgehen, was den Eltern zugestossen sein könnte. Das Schweigen der Eltern führte in einigen Fällen zu einer distanzierten Beziehung zu den Eltern, die wie eine «Scheibe» zwischen ihnen stand.

Das Schweigen aufbrechen

Manche Töchter und Söhne wollten noch als Erwachsene bewusst nichts über die Vergangenheit der Eltern wissen, aus Angst, nicht damit umgehen zu können. Bei anderen überwog das Bedürfnis zu erfahren, was geschehen ist. Sie konfrontierten ihre Eltern oder recherchierten auf eigene Faust in Archiven. Die einsetzende öffentliche Aufarbeitung erleichterte in manchen Familien das Sprechen, in anderen verschärfte sie bestehende Spannungen. Auf welchen Wegen auch immer die Nachkommen von der Vergangenheit der Eltern erfuhren, das neue Wissen erschütterte sie zutiefst. Sie begannen sich selbst, ihre Kindheit, ihr bisheriges Leben und ihre Eltern in einem neuen Licht zu sehen. Diese Prozesse konnten wiederum emotional sehr belastend sein. Auch damit mussten die Nachkommen einen Umgang finden. Gleichzeitig waren sie erleichtert, die Leerstellen in ihren Familiengeschichten allmählich füllen zu können und Erklärungen für bestimmte Vorkommnisse in ihrem Leben zu finden, womit sich die «Scheibe», die zwischen ihnen und den Eltern stand, zu verschwinden begann.

Langzeitfolgen anerkennen

Sowohl das Schweigen wie auch das Sprechen hat Konsequenzen. Nach Jahrzehnten der Tabuisierung von Politik und Gesellschaft ist es überfällig, die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen anzusprechen. Unsere Studie geht einen Schritt weiter und zeigt, wie fürsorgerische Zwangsmassnahmen ihre belastende Wirkung bis in die nächste Generation entfalten. Dafür herrscht in der Schweiz noch wenig Sensibilität. Stigmatisierung und Tabuisierung zu überwinden und eine gesellschaftliche Sensibilität zu erreichen, motivierte viele der Nachkommen zur Teilnahme an unserer Studie. Gewisse von ihnen haben im Rahmen des Forschungsprojekts erstmals mit Dritten über ihre Erfahrungen gesprochen. Sie haben ihrerseits das Schweigen gebrochen. Ihre Stimmen sollten in die laufende öffentliche Aufarbeitung miteinbezogen werden.

 


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