Betreuung im Alter: Der Handlungsbedarf reicht weiter

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Foto: istock AnnaStills

Die Sicherung der Selbstständigkeit im Alter hängt stark von der Betreuungssituation ab. Der Bundesrat hat mit einem neuen Vorschlag auf die Betreuungskrise reagiert, doch die psychosozialen Bedürfnisse bleiben oft unberücksichtigt. Es bestehen drei alternative Lösungsansätze, um Betreuung und soziale Teilhabe besser zu fördern.

Der Wunsch bis ins hohe Alter selbstständig zuhause leben zu können, hängt stark von der persönlichen Betreuungssituation ab. Denn Betreuung entlastet die Betroffenen in ihrer Alltagsgestaltung, stärkt die psychische Gesundheit und erleichtert die soziale Kontaktpflege und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In der Schweiz gibt es bis jetzt kein Anrecht auf Betreuungsleistungen. Die Betreuung erfolgt entweder durch die unbezahlte Arbeit von Angehörigen und dem persönlichen Umfeld oder durch kostenpflichtige Angebote professioneller Dienstleistungserbringenden.

Mittlerweile weisen zahlreiche Studien auf die sich anbahnende Betreuungskrise in der Schweiz hin. Besonders Personen im fragilen Alter mit tiefem Einkommen und schwachem sozialen Umfeld riskieren eine Unterversorgung. Die Folge sind erhebliche Einschnitte in der selbstbestimmten Gestaltung des Lebensalltags. Dies kann zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zu einem verfrühten Heimeintritt führen. Da sich die Betreuungskrise kurz- und mittelfristig eher zuspitzen wird, sind politische Massnahmen erforderlich, um zumindest für die vulnerablen Menschen im hohen Lebensalter die nötige Betreuung sicherzustellen.

Der Bund wird aktiv

Mit der Motion «Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen» beauftragte das Parlament den Bundesrat 2019, die Betreuung für zuhause lebende Senior*innen mit Ergänzungsleistungen (EL) zu ermöglichen. Im Mai 2024 wurde der bundesrätliche Vorschlag veröffentlicht. Dieser sieht die Anerkennung bestimmter Betreuungsauslagen vor, die unter den Krankheits- und Behinderungskosten der EL abgegolten werden können. Damit sollen die Autonomie und das selbstständige Wohnen von Personen, die zuhause leben, gestärkt werden. EL-Bezüger*innen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben, werden vom Vorschlag nicht berücksichtigt. Der vom Bundesrat ausgearbeitete Leistungskatalog umfasst ein Mietzuschlag für altersgerechte und barrierefreie Wohnungen, eine Vergütung von Wohnanpassungen, ein Notrufsystem, eine Haushaltshilfe, ein Mahlzeitendienst sowie Fahr- und Begleitdienste.

Es ist zu begrüssen, dass der Bundesrat mit dem Vorschlag einen dringlichen Handlungsbedarf im Thema Betreuung im Alter wahrnimmt. Inwiefern der Leistungskatalog eine wirksame Betreuung tatsächlich ermöglicht, bleibt aus sozialgerontologischer Sicht fraglich. Denn Betreuung im Alter wirkt am stärksten auf den Ebenen der psychischen Gesundheit und in der Befähigung, soziale Teilhabe und Beziehungspflege zu erleben. Der vorliegende Vorschlag berührt diese Bereiche nur indirekt.

Fasst man die verschiedenen Debatten zum Thema Betreuung im Alter zusammen, ergeben sich mittlerweile alternative Lösungsansätze, wie Betreuung und deren psychosoziale Dimension auf Bundesebene zu verankern wäre. Im Rahmen einer Veranstaltung der Akademien der Wissenschaften Schweiz, «Science et Politique à table!», konnte ich im Frühling 2024 drei Ansätze vorstellen.

Psychosoziale Dimension als Kriterium der Hilfslosenentschädigung

Wie die nationalrätlichen Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit im Postulat «Entwicklung der Hilfslosenentschädigung (HE) hin zu einem Betreuungsgeld» bereits angedacht hat, wäre die Berücksichtigung der Betreuung über die HE der AHV denkbar. Die HE der AHV unterstützt Personen, die in ihrem Alltag in fünf anerkannten Lebensverrichtungen direkt oder indirekt Hilfe benötigen – z.B. beim An- und Auskleiden). Bisher entsprang der Anspruch bloss aufgrund körperlicher Einschränkungen. Denkbar wäre eine Erweiterung der Bemessungskriterien auf psychische und soziale Faktoren. Damit hätten ältere Menschen Anspruch, wenn ihre psychische Gesundheit gefährdet wäre – z.B. ein Vereinsamungsrisiko besteht – oder sie Schwierigkeiten bei der selbstständigen Lebensführung haben, z.B. beim Knüpfen oder Pflegen sozialer Kontakte. Ähnliches besteht bei der HE der Invalidenversicherung bereits unter dem Stichwort «lebenspraktische Begleitung».

Betreuung als eigenständige Unterstützungsform der EL zur AHV

Nebst dem bundesrätlichen Vorschlag gibt es eine weitere Möglichkeit, die Betreuung im Rahmen der EL einzubinden. So schlägt Rechtsprofessor Landolt eine Aufhebung des dualen Finanzierungssystems der EL vor. Dabei soll nicht mehr zwischen den Wohnformen unterschieden werden, sondern ob eine ältere Person Betreuungsbedarf hat oder nicht. Betreuung wäre damit eine eigenständige Ausgabenkategorie, und deren ungedeckte Kosten müssten im Rahmen der jährlichen EL finanziert werden. Im Gegensatz zum bundesrätlichen Vorschlag käme der Betreuung dadurch eine höhere Anerkennung zu. Darüber hinaus wäre Betreuung an keinen engen Leistungskatalog gebunden, sondern würde sich gemäss Landolts Vorschlag stärker an Handlungsfeldern wie gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung orientieren, welche die psychosoziale Dimension stärker im Fokus haben.

Impulsprogramm zur Betreuung im Alter

Als dritte Variante wäre die Erarbeitung eines Impulsprogramms zum Thema «Betreuung im Alter» denkbar. Dieses wäre die Grundlage, um den gesetzlichen Auftrag für die Kantone und Gemeinden festzulegen und die Finanzierung, die Strukturen sowie die Angebote der Betreuung sicherzustellen. Das Thema Betreuung würde so als politisches Handlungsfeld an Bedeutung gewinnen, es bleibt allerdings offen, inwiefern die föderale Umsetzungen allen betreuungsbedürftigen älteren Menschen dieselbe qualitative Unterstützung gewähren könnte.

Die drei vorgestellten Lösungsansätze bieten die Chance der Betreuungskrise entgegenzuwirken und die Lebensqualität gerade von Personen im fragilen Alter mit tiefen Einkommen und schwachem sozialem Umfeld entscheidend zu verbessern. Es wäre daher angebracht, die politische Diskussion in diese Richtung zu erweitern und so an die erfreulichen Schritte des Bundesrates anzuschliessen.

 


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