Wie können alle Menschen in einem sozial durchmischten Quartier adäquat angesprochen werden? Dieser Frage gingen Forscherinnen der Berner Fachhochschule im Projekt «Räume für alle» nach. Das Beispiel einer Intervention in Bern West illustriert, welches Erkenntnispotenzial ein künstlerisches, exploratives Vorgehen mit sich bringt.
In der Stadt Bern existiert eine Vielzahl soziokultureller Angebote zur Integration und Teilhabe. Oft erreichen sie ihre Zielgruppen in den Quartieren aber nur teilweise, was sich negativ auf ihre Wirkung und somit auch auf ihre Legitimierung auswirkt. Vor diesem Hintergrund wollte unser Projekt «Räume für alle» neue Wege zur Ansprache und Mitgestaltung des Quartiers erproben.
Hierfür begleiteten wir unsere Praxispartner Miau-Q und Wir alle sind Bern bei der Planung und Durchführung des Stadtforums – eines Quartieranlasses in Bern West – auf zwei Ebenen: Zum einen unterstützten wir den Planungsprozesses schrittweise entlang einer «Reflexiven Figur» (siehe Visualisierung), mit der wir diversitätstheoretische und sozialräumliche Perspektiven kombinierten. Zu anderen führten wir selbst niederschwellige, visuell attraktive Interventionen im Quartier durch, um die Bevölkerung diversitätsreflektiert anzusprechen und sie zur aktiven Beteiligung am Stadtforum einzuladen. Am Stadtforum wurden die Quartierinterventionen wieder aufgegriffen, was zu zusätzlichen Erkenntnissen für die Weiterentwicklung des Projekts führte.
Best of Bern West – ein Kompliment wandert durchs Quartier
Eine der Quartierinterventionen war der «Komplimente-Pokal». Er fokussierte auf die Gestaltung des Zusammenlebens und auf die Frage, was und wer den Menschen im Quartier wichtig ist. Hierfür lud ein grosser wandernder Papp-Pokal zu einem Wettbewerb ein. In acht Sprachen forderte die Frage «Wer ist wichtig für dein Quartier?» dazu auf, Personen aus Bern West zu nominieren und die Wahl zu begründen. Die Auslosung wurde als Teil des Stadtforums angekündigt und dem*der Gewinner*in winkte ein Einkaufsgutschein. Beim «Komplimente-Pokal» konnten die Bewohner*innen des Quartiers zudem Sticker mit dem Hashtag #bestofbernwest mitnehmen. Diese konnten sie an passenden Orten aufkleben, fotografieren und auf Instagram stellen, was weitere Personen zur Teilnahme am Wettbewerb und am Stadtforum animierte.
Während der zweiwöchigen Laufzeit lösten der Wettbewerb und die Sticker an verschiedenen Orten im Quartier deutliche Reaktionen aus. Es gelang dadurch, die breite Bevölkerung und insbesondere Kinder und Jugendliche anzusprechen. Gerade das Design der äusserst beliebten Sticker schaffte es, Zugehörigkeit, Vielfalt, Stolz, Fancyness auf den Punkt zu bringen. Die Wettbewerbseinsendungen eröffneten ein breites Spektrum, was den Menschen im Quartier wichtig ist und welche Beiträge fürs Zusammenleben sie von ihren Mitmenschen schätzen: Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Fröhlichkeit, Humor, Begegnungs- und Interaktionsmöglichkeiten, Freundschaft, nette Gesten und Dankbarkeit waren die häufigen Begründungen für eine Nomination. Es sind Aspekte, die das Zusammenleben, den gegenseitigen Umgang und die Beziehungsgestaltung ansprechen. Und sie sind ein Hinweis, wie ein vielstimmiges Wir-Gefühl im Quartier und Räume für alle ausgestaltet sein sollten.
Das Potenzial künstlerischen Interventionen weiter ausschöpfen
Unser Projekt zeigte, dass niederschwellige und sinnlich ansprechende Interventionen das Potenzial besitzen, mit den Bewohner*innen eines diversen Quartiers in Dialog zu treten. Dadurch können vielfältige Stimmen abgeholt und neue Räume der Verständigung und Beteiligung im Quartier eröffnet werden – gemäss des aktuellen lebensweltlichen Bedarfs. Zur Gestaltung der Interventionen im Sozialraum erwies sich die Kombination von Perspektiven aus Design und Sozialer Arbeit als ausgesprochen produktiv.
Bei der Entwicklung der Kommunikationsmittel wurden diversitätstheoretische Kenntnisse einbezogen, wie normative Vorstellungen über das Zusammenleben die Gestaltung von Beteiligungsmöglichkeiten beeinflussen. Zudem wurde sichergestellt, dass die sprachlich reduzierten, vereinfachten Inhalte keine klischierten und differenzbetonenden Aussagen enthalten, welche dem diversitätsoffenen Anspruch zuwiderlaufen. Auf diesem Vorgehen gründete schlussendlich der Erfolg der Sticker-Aktion, die als künstlerischer Selbstläufer im Quartier die engen Ziel- und Wirkungsvorstellungen eines Quartieranlasses aufbrach und überraschende Erkenntnisse zum Zusammenleben im Quartier ermöglichte.
Die Ergebnisse der Intervention sollen nun wieder zurück ins Quartier gespiegelt werden. Aus den Antworten des Wettbewerbs haben wir Postkarten gestaltet, die an verschiedenen Orten im Quartier aufgelegt werden. Sie sollen die gesammelte Wertschätzung ins Quartier zurücktragen und stellen Anknüpfungspunkte für weitere Interventionen dar. Denn das Projekt soll weiter gehen: In einem Folgeprojekt streben wir eine Kooperation in einer diversen Gruppe von Akteur*innen an, um im Quartier jenseits der etablierten Kommunikationskanäle weitere künstlerische Interventionen zu gestalten und neue, alltagsnahe Interaktionsformen zu schaffen.
Soziale Innovation am Mittag: Räume für alle
6. Mai 2022, 12.15–13.15 Uhr – Hallerstrasse 8, Bern und Online
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Räume für alle» erprobte neue diversitätsreflektierte Wege, um mit Menschen aus der unorganisierten Bevölkerung in Dialog zu treten. Wir freuen uns, mit Studierenden und Fachpersonen zentrale Erkenntnisse des Forschungsprojekts zu diskutieren.
Für Teilnehmende vor Ort wird ein kleiner Lunch offeriert.
Kontakt:
- Simone Gäumann, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Soziale und kulturelle Vielfalt.
- Beatrice Kaufmann, künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institute of Design Research, Hochschule der Künste Bern.
Artikel und Berichte:
Partner und Projekte:
- MiAu-Q – Mitwirkung von Ausländerinnen und Ausländern in den Quartieren Bümpliz und Bethlehem
- Wir alle sind Bern
0 Kommentare